Manchmal könnte ich Corona küssen

Natürlich dürfen wir Corona nicht unterschätzen. Für ältere Menschen mit schweren  Vorerkrankungen ist die Krankheit lebensbedrohlich. Ich denke an einen mir nahen Menschen, der vor über 20 Jahren die Legionärskrankheit hatte. Die Erkrankung war von einer schweren Lungenentzündung begleitet. Um seine Erstickungs-Angst zu beschreiben, sagte dieser Mensch später: In meinen Lungen war gerade mal für so viel Luft Platz, wie sie in einen Fingerhut passt. Das stelle ich mir schrecklich vor. Wenn ich als gesunder Mensch tief Luft hole, fühlt es sich ja so an, als füllten sich nicht nur meine Lungen, sondern auch Bauch, Kopf und Gliedmaßen mit Atem.

Anders als etwa Corona wird die Legionärskrankheit durch eine bakterielle Infektion (mit Legionellen) hervorgerufen, die mit Antibiotika behandelt werden kann. Dank gezielt eingesetzter Antibiotika wurde dieser Mensch wieder gesund. Wenn Sie älter wären, hätten Sie das nicht überlebt, hat man damals zu ihm gesagt. Jetzt ist er älter. Von der Legionärskrankheit hat er eine chronische Bronchitis davongetragen und eine panische Angst vor Infektionskrankheiten. Ich hab Angst um ihn, auch und gerade, weil er Angst hat.

Angst, so sagt man, blockiert die Immunabwehr. Und Angst blockiert die Selbstheilungskräfte. Aus Angst rufen viele Menschen auch dann nach Hilfe, wenn sie sich eigentlich selber helfen könnten. Wenn sie erkranken, erwarten sie die Heilung durch eine Medizin, die oft nicht heilen kann, sondern nur helfen, die Symptome zu lindern. So im Fall Corona.

Was Corona angeht, war ich eine Weile ziemlich niedergeschlagen, weil die Krankheit hoch ansteckend ist. Mit Hygienemaßnahmen kann man gegen Corona nicht viel machen, denn die Krankheit überträgt sich im alltäglichen menschlichen Mit- und Beieinander. Doch vor etwa zehn Tagen las ich dann einen Beitrag, der mich optimistisch stimmte: https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-kinder-infizieren-sich-offenbar-genauso-haeufig-werden-aber-nicht-krank-a-72e2a605-5865-4d23-81b1-c1c4f453d659 Ganz anders als etwa die Pest (die es immer noch gibt) ist Corona zwar nicht behandelbar, kann aber Kindern nicht viel anhaben… Manchmal könnte ich Corona küssen – und lasse es lieber.

Warum nur hat Angela Merkel aufgrund dieser guten Nachricht keine Luftsprünge gemacht, warum nur hat die kleine „Frohe Botschaft“ sie nicht ein bisschen entspannt? Ich fürchte, dass sich Angela Merkel längst abgefunden hat mit der katastrophalen Situation, in der sich die Menschheit nicht erst seit Corona befindet. Selbst in der Katastrophe kann man es sich noch eine Weile wunderbar bequem machen. Gegenüber Greta Thunberg und den weltweit streikenden und demonstrierenden, um ihre Zukunft kämpfenden jungen Menschen hat sich unsere Politik verantwortungslos und „erbärmlich“ verhalten: Ignorant, gönnerhaft und autoritär. Es scheint, als würde man den Jungen ihre lebensbejahende Haltung und ihre physische und psychische Stärke missgönnen.

Erkranken jüngere Kinder nur schwach, weil sie in der Regel noch voller Lebenslust sind und keine Todesangst haben? Ich frage unsere sozial und politisch engagierten Töchter (24 und 20), die beide (im Master bzw. Bachelor) Psychologie studieren und zur Zeit coronabedingt in Köln sind: Was glaubt ihr, warum kann Corona Kindern nicht viel anhaben?

Kinder sind noch näher an der Natur, sagte die Ältere, die Kleinen sind spielerisch und unbefangen. Ich sage: Oft empfinden ältere Menschen eine Erkrankung als Angriff von außen und sich selber als Opfer, das tun Kinder nicht. Wir spekulieren weiter. Irgendwann sagt die Jüngere einen Satz, der mir Gänsehaut macht: Corona ist wie von einer menschenliebenden Gottheit geschickt, die es gut meint mit der Umwelt und mit den Kindern.

Jetzt sind wir dran, sagen die Jungen. Zettel wie dieser hingen am Wochenende überall in unserer Siedlung aus.

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„… Da wir ausnahmsweise aufgrund unseres Immunsystems den stärkeren Teil der Bevölkerung ausmachen… “ Ich finde, die jungen Leute machen schon seit Jahren aufgrund ihrer Unbeirrbarkeit in Fragen der Klimapolitik den stärkeren Teil der Bevölkerung aus! Mittlerweile hat der Verein Nachbarn60 die Idee aufgegriffen und ebenfalls Nachbarschaftshilfe angeboten. Aus der aktuellen Mail an alle Bewohnerinnen und Bewohner der autofreien Siedlung: Personen und Familien, die Unterstützung benötigen, schicken eine Anfrage (mit Zeitpunkt, Kurzbeschreibung der Tätigkeit, Einschätzung der Dauer) an helferpool@nachbarn60.de

17. März: Die erste Pusteblume

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Lieber Eberhard, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

3 Gedanken zu „Manchmal könnte ich Corona küssen

  1. Ich finde das Verhalten der Jungen Menschen wunderbar! Auch Ihren Beitrag! Das mit der Gottheit, da ist was dran. Anlässlich der Olympischen Spiele in Toronto weiß nicht mehr genau, ob es dort war (jedenfalls in Kanada), gaben Die kanadischen Ureinwohner eine Botschaft an die ganze Welt. Die Botschaft lautete, „Mother Earth is very Angry…“. War wohl umsonst damals.

    • Ganz herzlichen Dank für den Kommentar – über die deutsch-österreichische Grenze hinweg! Ich glaube, dass die Botschaft der kanadischen Ureinwohner nicht umsonst war. „Mother Earth is very angry“, aber auch geduldig. Die Natur verfügt ja über große Selbstheilungskräfte, die wir nur nicht noch weiter schwächen dürfen. Der deutsche Liedermacher Wolf Bierman hat Anfang der 1980er Jahre anlässlich der Geburt seiner Zwillingskinder Til und Marie ein schönes Lied geschrieben, das so beginnt: „Wir müssen vor Hoffnung verrückt sein, Marie, du kleine Sonne, dass wir dich warfen in diese Welt.“ Ja, wir müssen vor Hoffnung verückt sein!

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