Ich musste 61 Jahre alt werden, um zu erleben, wie sich Stubenarrest anfühlt

Ich hatte als Kind nie Stubenarrest. Meine Eltern hätten sich vor uns Kindern geschämt, wenn sie uns Stubenarrest erteilt hätten. Sie waren überhaupt nicht autoritär.

Andere Eltern waren autoritär. Ihre Kinder bekamen Stubenarrest, obwohl es keinen Grund gab. Der Stubenarrest war eine reine Machtdemonstration. Einmal habe ich einen Stubenarrest miterlebt. Wir waren eine Handvoll Kinder, sechs oder sieben Jahre alt, und wollten ein Mädchen zum Spielen abholen. Babette, so hieß das Mädchen, durfte nicht nach draußen. Wir waren „kein guter Umgang“. Die Wohnung lag im Erdgeschoss. Immerhin durfte Babette das Fenster öffnen und mit uns reden, aber sie hätte sich niemals getraut, aus dem Fenster zu klettern. Peter, der selber eine strenge Mutter hatte, hatte die rettende Idee: Wenn Babette schon nicht nach draußen durfte, brachten wir das Draußen zu ihr.

Der Weg, der zum Garten führte, war mit roten Kieselsteinen bestreut. Wir gaben den Steinchen eine neue Funktion, sammelten sie ein und warfen sie durchs Fenster. Immer mehr… In meiner Erinnerung ist das Zimmer mit Steinchen überschwemmt. Babette jubelt, sie watet singend durchs Steinchenmeer…

Irgendwann kam die Mutter ins Zimmer und knallte das Fenster zu. Doch dadurch hatte sie sich selber eingesperrt, stand sprachlos hinter der Scheibe und verstand die Welt nicht mehr.

Ich hoffe, es wird dem Bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, CSU, einmal ähnlich ergehen. Entsetzt war ich, diese Drohung zu lesen: „Wenn sich viele Menschen nicht freiwillig beschränken, dann bleibt am Ende nur die bayernweite Ausgangssperre als einziges Instrumentarium, um darauf zu reagieren. Das muss jedem klar sein.“ Markus Söder kostet seine neue Macht aus, setzt die Bürger ins Unrecht und sich selber ins Recht. Das ist anmaßend und autoritär. Bayern hat am 20.3.2020 als erstes Bundesland „Ausgangsbeschränkungen“ verhängt, und alle anderen Länder sind Bayern gefolgt. Es ist zum Weinen und zum Lachen: Mit 61 Jahren habe ich zum ersten Mal im Leben Stubenarrest.

Heribert Prantl, Jurist, Journalist und Autor, langjähriger Leiter des Ressorts Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung, nennt in einer Video- Kolumne die Ausgangsbeschränkungen „den größten Grundrechtseingriff, der den Bürgerinnen und Bürgern in Bayern seit dem Zweiten Weltkrieg widerfahren ist.“ https://www.sueddeutsche.de/politik/soeder-bayern-ausgangsbeschraenkung-1.4853207

Im Jahr 1949, als das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland erlassen wurde, wurde mein Vater Ernst Wilczok, SPD, im Alter von 27 Jahren (ehrenamtlicher) Oberbürgermeister der Ruhrgebiets-Stadt Bottrop. Er blieb es (ehrenamtlich) 34 Jahre lang -mit zwei Unterbrechungen- bis zu seinem Tod im Jahr 1988. Niemals hätte er sich angemaßt, sich in das Leben der Bürgerinnen und Bürger einzumischen oder sie zu erziehen.

Herr Markus Söder, Sie verstoßen gegen Artikel 1 unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Herr Söder, ich schäme mich für Sie – vor meinem vor 32 Jahren verstorbenen Vater.

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In ihrem Newsletter demonstriert die Stadt Köln, wie gut sie eine Katastrophe (die in diesem Fall keine ist) verwalten kann. Die Coronoia unserer Politik zerstört die Betriebe, die eine Stadt erst lebendig machen, wie etwa Kneipen, Cafés und Buchläden, führt aber nicht zur dringend notwendigen Entschlackung der Bürokratie.

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