“Tut das gut”, sagt die Frau Keuner, nachdem sie einen Schluck Kölsch getrunken hat. “Das nenne ich Freiheit. Mitten auf der Straße kühles Kölsch direkt aus der Pulle, unbeobachtet. Deshalb möchte ich nicht prominent sein. Da musst du dich immer kontrollieren, immer aufpassen, was du sagst, denn du wirst ständig beobachtet. Du lebst ja nicht nur vom, sondern im Fernsehen. Aber manchmal vergessen die Promis, dass wir sie beobachten. Ich denk da an den Jogi Löw. Wo der sich überall hingepackt hat.”
“In die Nase doch nur, oder?”
“Nicht nur”, sagt die Frau Keuner. “Hast du das damals nicht mitgekriegt? 80 Prozent von euch und ich … Die Pressekonferenz, wo der Poldi das gesagt hat, kannst du dir auf You Tube angucken.”
“Da hatte man noch was zu lachen”, sagt die Frau Keuner. “Jetzt tritt der Jogi ab. Der sieht ja neuerdings ziemlich alt aus. Als Fernseh-Figur kannst du nicht unbeobachtet altern. Die Fernsehzuschauer ertappen dich sozusagen dabei. Und die kriegen es alle mit, wenn du pummelig wirst. Je höher die Einschaltquote ist, desto mehr Leute sitzen vor dem Fernseher und sagen: Ist der Eckart von Hirschhausen aber moppelig geworden. Vor den Leuten kannst du auch nicht verstecken, dass du gesoffen hast. Ich bin mir übrigens ziemlich sicher, dass die Margot Käßmann verpfiffen wurde, als die damals ein einziges Mal zu viel gesoffen hat. Ist allerdings auch bescheuert, sich als öffentliche Person alkoholisiert hinters Steuer zu setzen.”
“Ich glaub, die konnte einfach nicht mehr, die musste mal…”, sage ich. “Das war schlau.”
Wir sind vor dem Haus angekommen, wo die Frau Keuner wohnt. Es ist nicht so leicht zu erkennen, denn die Mehrfamilienhäuser sehen alle gleich aus und sind aneinander gebaut. Alle Häuser haben ein gemeinsames Dach, wie mir die Frau Keuner erklärt. Und deshalb hatten alle Häuser ein gemeinsames kaputtes Dach und eine gemeinsame Baustelle.
Die Frau Keuner geht noch nicht hoch. “Schön, mit dir zusammen draußen Bier zu trinken. Aus einer echten Glasflasche. Für zu Hause hol ich mir ja meistens das Weißbier von Aldi in der Plastikpulle. Das schütte ich mir dann in ein Glas um. Aber direkt aus der Pulle geht Plastik überhaupt nicht. Wie hieß noch die Karnevalsaktion der Stadt Köln, wo die Leute dazu erzogen werden sollten, das Bier nicht mehr aus Glasflaschen zu trinken, sondern aus stabilen Plastikbechern?”
“Mehr Spaß ohne Glas”, sage ich. “Ich versteh das schon. Es liegen ja schon ohne Karneval überall Scherben rum.”
“Dann sollte man, anstatt uns alle damit zu bestrafen, Bier aus Plastikbechern zu trinken, lieber den Flaschenpfand auf fünfzig Cent erhöhen”, sagt die Frau Keuner. “Nicht nur zur Karnevalszeit. Könnte man ja mal ausprobieren. Für acht Cent bringt niemand die Bierflasche zurück. Prost.”
“Wie hat sich eigentlich das Leben auf der Baustelle angefühlt?”, frage ich.
“Dumme Frage”, sagt die Frau Keuner. “Wie wohl? Ich hatte monatelang das Gerüst direkt vor dem Fenster. Wie soll ich mich gefühlt haben? Bedroht! Du weißt ja nie, wer zu dir will, Einbrecher, die Polizei oder die aufsuchende Impfung. Es gibt so viele Leute, die ihren Mitmenschen einen Schreck einjagen wollen. Erinnerst du dich noch an die Horrorclowns, die vor ein paar Jahren unterwegs waren? Stell dir vor, ein als Krankenhausclown verkleideter Eckart von Hirschhausen und der Impfarzt Karl Lauterbach tun sich zusammen, die klettern über das Gerüst auf deinen Balkon und klopfen von außen an dein Fenster. Lustig, was?” Die Frau Keuner nimmt einen Schluck Bier. “Wenn du alleine lebst, ist so eine Baustelle alptraumhaft. Erst recht in Corona-Zeiten. Puff geschlossen, Stadion nur für geladene Gäste. Das macht die Männer noch aggressiver, als sie ohnehin sind. Eigentlich sollte das Gerüst vor Weihnachten abgebaut werden. Soll ich dir Fotos zeigen? Ich hab die Fotos an das Heimatministerium geschickt: Das ist sooo deutsch: Pfusch am Bau.”

Hereinspaziert!
“Und warum haben Sie die Fotos an das Heimatministerium geschickt?”, will ich wissen.
“Weil die da auch für den Bau zuständig sind. Das Heimatministerium ist das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat. Ich finde, ein Bundesministerium für Bau und Heimat sollte darauf achten, dass so gebaut wird, dass sich die Menschen überall in Deutschland in ihren Wohnungen beheimatet fühlen. Aber die sind da leider mehr an PR als am Gemeinwohl interessiert. Das Heimatministerium gibt Broschüren heraus, die uns die unternehmerfreundliche Politik als bürgerfreundlich verkaufen. Stadtentwicklungsbericht 2020. In den Großstädten wird der soziale Wohnungsbau gefördert, damit die Leute nicht mehr gezwungen sind, von Köln nach Frechen zu ziehen, weil sie die Mieten nicht mehr bezahlen können.
“Das klingt doch gut”, sagte ich.
“Ja, das klingt gut”, sagte die Frau Keuner. “Aber dann bauen die die Wohnungen so billig, dass nach ein paar Jahren saniert werden muss. Prost.”
“Prost auch”, sage ich. “So fördert man das Handwerk.”
“Hömma, wie redest du?! Lisa, du musst keine Miete zahlen. Du bist fein raus. Das hier ist geplanter Verschleiß am Bau. Wenn ein Staubsauger nach ein paar Jahren kaputt geht, kannst du den wegschmeißen, weil sich die Reparatur nicht mehr lohnt, aber du kannst ein Wohnhaus nicht in die Tonne kloppen. Man darf doch beim Bau der Wohnhäuser nicht an den falschen Stellen sparen. Wobei die falschen Stellen für manche Leute genau die richtigen sind. Ich denke, mein Vermieter GAG hat sich die Sanierung teuer bezahlen lassen. Auf unsere Kosten, denn auf der öffentlich geförderten Baustelle leben wir. Ich habe gerade mal 15% weniger Miete gezahlt. Warum musste ich überhaupt noch Miete bezahlen? Warum hab ich kein Schmerzensgeld gekriegt?”
“Warum gucken Sie mich an?”, frage ich. “Ich bin keine Vermieterin.”
“Aber Eigentümerin”, sagt die Frau Keuner. “Ich weiß ja, dass eure schmucken Reihenhäuser kurz nach Ablauf der Gewährleistungsfrist sanierungsbedürftig waren und es immer noch sind. Hast du mir selber erzählt. Aber ihr könnt selber entscheiden, wann und ob ihr euch das Gerüst vor die Häuserreihe stellt. Und ihr könnt die Bruchbuden teuer verkloppen. Die autofreie Siedlung ist ja eine Top-Adresse für Leute mit Kleinkindern. Die kaufen die Häuser, obwohl sie wissen, dass die Bausubstanz schlecht ist. Der Bauträger hat ja damals keinen Unterschied gemacht zwischen Einfamilien- und Mehrfamilienhäusern. Billiger, billiger, billiger.”
Die Frau Keuner verstummt, aber nur, weil sie trinkt. Sie setzt die Flasche ab, wischt sich mit dem Handrücken über den Mund und redet dann weiter: “Jetzt wurde im Heimatministerium der Förderaufruf Post-Corona-Stadt gestartet. Es geht um die Finanzierung zukünftiger Bauprojekte. Woran erinnert dich das Vorhaben Post-Corona-Stadt? Was soll da mit unseren Geldern gefördert werden? Welche Nachkriegs-Vokabel fällt dir dazu ein?”
“Wiederaufbau?”
“Genau”, sagt die Frau Keuner. “Aber warum fühlt sich der Heimatminister nicht verantwortlich für die Stadt vor Corona, für den Zustand der Häuser, die schon vor Jahren und Jahrzehnten gebaut wurden? Warum lässt man zu, dass die Menschen gerade in den Großstädten völlig überhöhte Mieten zahlen müssen? Das Bundesverfassungsgericht hat gerade den Berliner Mietpreisdeckel gekippt. Sag mal, interessiert dich das nicht?”
“Ich muss jetzt gehen”, sage ich.
“Du wartest, bis wir hier fertig sind”, sagt die Frau Keuner, stellt die Bierflasche ab und kramt ihr Smartphone aus der Tasche. “Hömma, wir sind das Volk. Wer zahlt die Steuern, wer bezahlt Rundfunkgebühren, wer finanziert das Wohlleben der Politiker? Und was sagt unser Heimat- und Innenminister Horst Seehofer, der sich gerade als einziger Bundesminister nicht den Ladenhüter Astrazeneca, sondern die vermeintliche Nobel-Impfung Biontech hat verabreichen lassen? Der Mann ist so gönnerhaft. Was steht da auf der Web-Site? Moment…”
Die Frau Keuner setzt die Lesebrille auf und tippt auf dem Smartphone herum: “Er sagt… Hier: Wir greifen Menschen unter die Arme, bei denen der Lohn trotz Arbeit nicht für die Miete ausreicht. Hömma, ist dat dem sein Geld? Ich sage dir, ich will nicht, dass mir einer an den Arm greift, ich will nicht, dass mir einer unter die Arme greift, ich will überhaupt nicht, dass man sich an mir vergreift. Wem gehört das Geld, wem gehört die Welt? Die Prominenten leben in ihrer wohltemperierten Blase und haben Angst, dass die Blase, die immer dicker wird, platzt. Irgendwann wird sie das. Die Demokratie, das sind wir. Denn wer gestaltet das Leben in den Städten, in den Stadtteilen, auf den Straßen, auf den Plätzen? Wer macht Musik, wer hält ein Schwätzchen, wer sorgt öffentlich für gute Stimmung? Doch nicht die Politiker.”
“Bah”, mache ich. Ich habe den Fehler gemacht, mir die Flasche mit dem schon ollen Restschluck Bier an die Lippen zu setzen..
“Dat gönn ich dir”, sagt die Frau Keuner und lacht. “Kölsch wird schnell schal, das muss man schneller trinken, als man kann. Davon leben die Brauhäuser. Du traust dich wohl nicht, den Rest vor meinen Augen in den Gully zu kippen.”
“Ach was.”
“Ja ja”, grinst die Frau Keuner. Sie steckt das Smartphone zurück in die Tasche. “Was ich noch sagen wollte: Der unglaubwürdigste Politiker ist für mich Bundespräsident Frank Walter Steinmeier. Da sitze ich vor dem Fernseher und gucke mir seine Weihnachtsansprache an. Ich ahne nichts Böses, da sagt der Steinmeier diesen Satz: Wann kann ich meine Träume wieder leben?
Das haben angeblich die Bürger den Steinmeier gefragt. Dass dieser Präsident sich nicht schämt. Zu Beginn der Rede wird die schöne, wunderbar intakte, gerüstlose Fassade von Schloss Bellevue gezeigt. Auf diese Fassade wurden in der Adventszeit, wie der Steinmeier sagt, gefühlvolle Sprüche projiziert. Für die Weihnachtsansprache wurde das noch einmal nachinszeniert. Wir Fernsehzuschauer gucken auf die Fassade und sehen leuchtende Satzfetzen, die auftauchen und wieder verschwinden. Tolle Installation. Nur ein einziger Satz ist komplett: Wann kann ich meine Träume wieder leben?
Diese Anbiederung an die Menschen ist übelste politische Propaganda. Zum Glück gibt es das Internet, denn die Rede ist da konserviert. Ja, den Schmarren kann man sich auf You Tube noch einmal ganz genau angucken, und zwar kritisch und mit Abstand. Ich kann den Beginn der Rede auswendig. Also, hör gut zu…”
“Muss das sein?”
“Muss sein”, sagt die Frau Keuner. “Weil das so entlarvend ist. Also: Dieser tiefe Seufzer, liebe Landsleute, ist eine von tausenden persönlichen Botschaften, die mich aus allen Teilen unseres Landes erreicht haben. Viele der Zuschriften haben wir in der Adventszeit hier draußen auf der Fassade von Schloss Bellevue zum Leuchten gebracht – jede einzelne ein Zeichen der Sehnsucht am Ende eines Jahres, das wir uns alle ganz anders vorgestellt hatten.” Die Frau Keuner macht eine kurze Pause und fragt dann: “Was sagst du als Sprachwissenschaftlerin dazu?”
“Tut weh”, sage ich nur. “Sentimentales Gesülze.”
“Genau”, sagt die Frau Keuner. “Dass der Mann sich nicht schämt. Für diesen Schwulst, dieses Geseire. Als würden wir uns mit unseren Sorgen und Nöten an den Bundespräsidenten wenden, obwohl doch die Bundespolitik für diese neuen Nöte und Sorgen verantwortlich ist.”
“Ob man das so sagen kann?”, unterbreche ich die Frau Keuner.
“Kann man”, sagt die Frau Keuner. “Und guck dir die Formulierungen an: Dieser tiefe Seufzer…, eine von tausenden persönlichen Botschaften…, jede einzelne ein Zeichen der Sehnsucht… Viele Menschen empfinden so, aber viele empfinden ganz anders. Sie sind wütend, sie sind so wütend wie noch nie, und wer das ganz genau weiß, ist Frank Walter Steinmeier. Der schreibt ja seine Reden nicht selber, die schreiben psychologisch geschulte Werbetexterinnen und Werbetexter, die uns Bürgerinnen und Bürger beschwichtigen und besänftigen sollen. Denn der Steinmeier hat auch andere Briefe gekriegt, sachliche, kritische Briefe mit klugen, nachdenklichen Sätzen, aber die kritischen Sätze passten nicht auf die Fassade, deshalb verschweigt man sie. Ich hatte den Steinmeier hierhin eingeladen, damit der sich mal die Baustelle anguckt. Damit er sieht, dass es auch andere, weniger schöne Fassaden gibt. Frank-Walter Steinmeier ist nicht gekommen, und ich hab auch keine Antwort gekriegt. Aber dann…” Die Frau Keuner hört auf zu reden und atmet schwer.
“Aber dann…? Bitte, Frau Keuner, reden Sie weiter.”
“Aber dann kam ein Mann vorbei, der hat das Gerüst fotografiert. Weißt du, was der gesagt hat? Ich beneide Sie darum, hier zu leben. Das ist Kunst, Verpackungskunst. Wo jetzt die Theater geschlossen sind, können Sie froh sein, Teil eines Kunstwerks zu sein. Sind die denn alle bekloppt?”
Die Frau Keuner kippt den Rest Kölsch in den Gully. “Erinnerst du dich an den Löwenthal? Das waren noch Zeiten, als die Moderatoren noch offen reaktionär waren, damals, als im öffentlich-rechtlichen Rundfunk von links noch Gegenwind kam.” Sie fängt an zu singen: “Die Milch wird sauer, das Bier wird schal, im Fernsehen spricht der Löwenthal…”
“Ich sehne mich nach Politikern wie Franz Josef Strauß”, sagt die Frau Keuner. “Der Strauß hat seine Aggressionen nicht versteckt. Der war furchtbar, aber der hat nicht auf Gutmensch gemacht. Der Mann hat sich nicht bei uns eingeschleimt. Für den Franz-Josef Strauß waren die kritischen Menschen weder Wutbürger noch Verschwörungstheoretiker, sondern Ratten und Schmeißfliegen.”
“Der Strauß war doch ein Polterer”, sage ich.
“Aber immerhin kein Bürokrat”, sagt die Frau Keuner. “In den letzten Jahren haben wir uns zu sicher gefühlt und nicht aufgepasst. Wir haben uns eingebildet, dass nur die AFD unsere Demokratie gefährdet. Aber die CDU…”
“Das geht mir zu weit, Frau Keuner, die CDU gefährdet doch nicht unsere Demokratie.”
“Hab ich das etwa behauptet?” Die Frau Keuner drückt mir die leere Bierflasche in die Hand.