Wie hält eine Oberbürgermeisterin Bürgerinnen und Bürger auf Abstand, ohne sie zu verstimmen? Indem sie die Menschen in den großen Saal eines öffentlichen Gebäudes einlädt und mit kostenlosen Getränken und Häppchen bewirtet, ein paar Publikums-Fragen beantwortet, dann aber im Hintergrund verschwindet… Indem sie Mediatorinnen und Mediatoren ausschickt, die mit den Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch kommen, ihnen Stifte in die Hand drücken und sie lächelnd dazu ermuntern, Verbesserungsvorschläge und Kritik nicht für sich zu behalten, sondern -thematisch geordnet- eigens vorbereiteten, an Stellwände gehefteten Plakaten anzuvertrauen…
So geschehen (und persönlich erlebt) beim Siebten Stadtgespräch im Bezirksrathaus Nippes am 16. Februar 2017.
In einem Interview mit dem Kölner Express hat die “parteilose” Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker kurz vor der Wahl 2015 (und nur zwei Tage vor der brutalen Messerattacke auf einem Kölner Wochenmarkt, bei der sie lebensgefährlich verletzt wurde) folgendes gesagt: “Ich habe immer betont, dass ich mit allen demokratischen Fraktionen im Rat zusammenarbeiten will – auch mit der SPD. Es geht mir um die beste Idee und nicht um die Frage, von wem sie kommt.” https://www.express.de/koeln/henriette-rekers-mann-ehemann-perry-somers-ueber-ihre-deutsch-australische-liebesgeschichte-61388
Aber ist Henriette Reker wirklich so “parteilos”, wie sie sich gibt?
Als Oberbürgermeisterin steht sie im permanenten Kontakt und gedanklichen Austausch mit dem Amt für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Stadt Köln. Dieses Amt, dessen Mitarbeiterzahl sich auf 52 erhöht hat (Stand: Frühjahr 2023), ist zuständig für Bürgeranfragen, Bürgerberatung und Bürgerinformation, vor allem aber für den Kontakt zu den Medien, also für die Öffentlichkeitsarbeit.
Leiter des Amts ist seit Anfang 2018 ein gebürtiger Kölner namens Alexander Vogel (39). Alexander Vogel ist nicht nur Amtsleiter, sondern zugleich Sprecher der Stadt und persönlicher Pressesprecher von Henriette Reker. Bevor er im Jahr 2017 zurück nach Köln kam, leitete Vogel, angeblich ein enger Vertrauter des im Jahr 2016 verstorbenen ehemaligen Außenministers Guido Westerwelle (FDP), als Generalsekretär die von Westerwelle gegründete Stiftung für internationale Verständigung. Wir ahnen: Alexander Vogel ist alles andere als parteilos. Ein Blick ins Internet verrät, dass Vogel FDP-Politiker ist. Bereits bei der Bundestagswahl 2009 kandidierte Vogel (damals 25) im Wahlkreis KÖLN I für die FDP.
Für Henriette Reker, die Vogel im Jahr 2017 nach Köln holte, war der FDP-Mann von Anfang an mehr als ein Pressesprecher. Der Kölner Express schrieb damals: “Offiziell trägt die neue Stelle den Titel „Redenschreiber“ in Rekers Büro. Tatsächlich gehen Vogels Aufgaben weit darüber hinaus. Sie beinhalten laut Stellenausschreibung etwa auch ausdrücklich den Zusatz Projektleitung „Konzeption und Umsetzung einer Kommunikationsstrategie“… Dahinter dürfte ein Ansinnen Rekers stecken, ihr Image langfristig aufzupolieren, und sich gegebenenfalls für eine erneute OB-Kandidatur 2020 zu wappnen.” https://www.express.de/koeln/koelns-ob-reker-holt-westerwelle-vertrauten-alexander-vogel-in-ihr-team-30280 Erhellender, unbedingt lesenswerter Artikel!
Frau Reker, die als ein wenig spröde gilt, schmückt sich gerne mit dem smarten jungen Mann, der aus seiner Homosexualität keinen Hehl macht. Als Alexander Vogel am 11.12. 2021 seinen Lebensgefährten heiratete, den Juristen Dr. Patrick Esser, mittags im Standesamt und nur eine Stunde später in der direkt an der Einkaufsstraße Schildergasse gelegenen evangelischen Antoniterkirche, war auch Henriette Reker geladen. Bei der anschließenden Feier im Hotel Wasserturm gehörte sie zu den “handverlesenen” Gästen, deren Zahl Corona-bedingt auf nur fünfzig beschränkt war. Wer wissen will, welche Kölner Kommunalpolitikerinnen und wer von der FDP dabei war: https://www.express.de/koeln/koeln-ob-sprecher-alexander-vogel-heiratet-lebensgefaehrten-82446
Nun hat sich Henriette Reker durch die ungewöhnlich enge Zusammenarbeit mit dem FDP-Nachwuchspolitiker Vogel meines Erachtens parteipolitisch klar positioniert. Das ist schon deshalb ein wenig “pikant”, da die FDP im Rat der Stadt keine große Rolle spielt. Hinzu kommt, dass die FDP bei der Oberbürgermeisterwahl im Jahr 2020 anders als noch 2015 Frau Reker nicht unterstützt hat und bei der OB-Wahl 2025 sogar einen eigenen Kandidaten aufstellen will.
Von daher wäre es fair, wenn auf der Internetseite der Stadt die (aktive) Parteizugehörigkeit des Amtsleiters zumindest kurz erwähnt würde. Nebenbei gesagt, empfinde ich als Kölner Bürgerin den Internet-Auftritt der Stadt als Affront. Zwar werden die Ansprechpartnerinnen und -Partner im Amt für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit kurz (und oberflächlich) vorgestellt, aber die Seite wendet sich ausschließlich an die Medien. https://www.stadt-koeln.de/politik-und-verwaltung/presse/team/index.html Für uns Bürgerinnen und Bürger gibt es bei der Stadt nicht einmal Ansprechpartner, sondern lediglich Kontaktformulare.
Erschrocken war ich, als ich sah, dass Henriette Reker als eine der Erstunterzeichnerinnen ihren Namen (nicht als Privatperson, sondern in ihrer Rolle bzw. “Funktion” als OB!) unter das sogenannte “Manifest für Freiheit” hat setzen lassen, eine Stellungnahme, mit der zwei ehrgeizige Jungpolitiker, Franziska Brandmann, Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen (FDP-Jugendorganisation), und Johannes Winkel, Bundesvorsitzender der Jungen Union (CDU-Jugend), am 24.2.2023 eine Petition gestartet haben. Diese Petition ist eine Gefälligkeitspetition für die Bundespolitik und die plumpe Antwort auf einen Text, der jetzt schon als historisch bedeutsam einzustufen ist, das “Manifest für Frieden” vom 10. Februar 2023, eine Petition von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer.
Bei Wagenknecht/Schwarzer, die ein sofortiges Ende der Waffenlieferungen fordern, heißt es klar und unmissverständlich: “Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt! Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen. Jetzt! Denn jeder verlorene Tag kostet bis zu 1.000 weitere Menschenleben – und bringt uns einem 3. Weltkrieg näher.”
Im “Manifest für Freiheit” hingegen wird die reale Bedrohung ignoriert und letztendlich verdrängt. Ich weiß nicht, ob Henriette Reker das FDP/CDU-initiierte Manifest aus eigener Überzeugung und/oder in Absprache mit ihrem Sprecher Alexander Vogel unterzeichnet hat. So oder so ist es unverzeihlich. Seit der heimtückischen Messer-Attacke kurz vor der OB-Wahl 2015, bei der sie von einem psychisch schwer gestörten Mann lebensgefährlich am Hals verletzt wurde, weiß Henriette Reker, wie schnell Gewalt eskalieren kann.
Nippes, Neusser Straße, 25.12.2020. Die rigiden, staatlich verordneten Corona-Maßnahmen werden in Köln -wie überall in Deutschland- mit aller Härte umgesetzt. Dennoch finde ich das kleine Maskenattentat -insbesondere vor dem Hintergrund des brutalen Angriffs auf Frau Reker in Jahr 2015- weder klug noch komisch.
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Jahreswechsel 2022/23, Bushaltestelle Zonser Straße: Plakat ohne Oberbürgermeisterin bzw. Angriffsfläche
So rätselhaft es auch sein mag: Oft charakterisiert der Familienname den Namensträger. Die beiden Kölner Weihbischöfe, die im Zusammenhang mit der Kölner Missbrauchsaffäre wegen Pflichtverletzungen (Verschweigen) beurlaubt worden waren, hören auf die Namen Puff und Schwaderlapp. Auch der Name Reker offenbart, wenn man ihn sich genauer anschaut, Erstaunliches.
Viele halten Frau Reker für eine Frau ohne politisches Rückgrat. Ob das so stimmt, weiß ich nicht. Aber man kann den Namen der Oberbürgermeisterin von links nach rechts, aber auch von rechts nach links lesen. Wie man den Namen auch dreht, wie man ihn auch wendet, der Name RekeR fängt an, wie er endet. Oder, auf kölsch gesagt:
“Hömma Lisa, du kannst ja braten”, sacht meine Nachbarin, die Frau Keuner, und stopft sich eine halbe Bulette ins Maul. “Aber wat isst du so langsam?”
“Ich will einfach nicht mehr so viel Fleisch essen.”
“Dann lass dir Zeit”, sagt die Frau Keuner. “Ich mach dat schon.”
Abends ist die Frau Keuner mit paar Flaschen Kölsch vorbeigekommen, und ich hab auf ihren Wunsch Buletten gebraten. Viele, weil ich damit gerechnet hab, dass die Frau Keuner viel essen kann. Die Frau Keuner spießt eine weitere Bulette auf. “Ich wollte dir den Appetit nicht völlig verderben, Lisa, aber die Wahrheit sagen. In dieser Bulette ist nicht nur das Fleisch von einem Rind und einem Schwein, sondern zerkleinertes Fleisch von unzähligen Rindern und Schweinen, denn das wird in riesigen Bottichen zermanscht. Aber sach, willst du nicht mehr?”
Ich kann mich erinnern, dass mein großer Bruder vor gefühlt 55 Jahren einmal aus Futterneid vor den Augen seiner hungrigen, entsetzten Schwestern in eine Schüssel mit köstlichem Essen gespuckt hat, und zwar ausgiebig, aber was die Frau Keuner hier macht, das ist schlimmer, das ist Psycho-Spucken.
“Das Fleisch ist bio”, sage ich leise.
“Dann is dat eben Hackfleisch von unzähligen artgerecht gehaltenen Bio-Schweinen und Bio-Rindern. Deine Buletten sind echt lecker, aber noch verbesserungsfähig. Die Zwiebeln könnten feiner geschnitten sein. Ich komm jetzt einmal die Woche vorbei und kontrolliere deine Fortschritte. Das nächste Mal bitte mit Salat.”
“Kartoffelsalat?”
“Jau”, sagt die Frau Keuner. “Buletten können wir noch essen, wenn wir überhaupt keine Zähne mehr haben. Aber jetzt pack mir bitte die restlichen Buletten in einen Tuppertopf. Die ess ich morgen in aller Ruhe, und zwar alleine, du störst ja nur.” Ich räume den Tisch ab und geh mit feuchtem Lappen und anschließend mit trockenem Geschirrtuch über die Platte, denn die Frau Keuner braucht fettfreien Platz für die Computerausdrucke.
Die Frau Keuner pickt ein paar übersehene Fleischkrümel vom Tisch und breitet die Ausdrucke aus. “Lisa, du musst mal langsam lernen, dich zu wehren. Du bist viel zu freundlich, aber die Gesellschaft ist das schon lange nicht mehr. Freundliche Menschen werden nicht ernst genommen. Die Demokratie ist nur noch ein Alibi. Die Politiker wollen deine Stimme, aber nach den Wahlen wollen sie dich ganz schnell wieder loswerden. Die sind an unserer Arbeit und an unserem Geld interessiert, aber nicht an unserer Meinung, denn das bringt nur Ärger. Wir sind denen lästig. Vielleicht erinnerst du dich: Vor zwei Jahren hast du gesagt, mit dem Jens Spahn würdest du gerne mal ein Gespräch unter vier Augen führen. Nur leider redet der Jens Spahn nicht mit dir. Aber das ist gut so, sonst wäre das Gesagte unter euch geblieben. Wozu hast du deinen Blog? Da kannst du aufschreiben, was du ihm gerne persönlich gesagt hättest. Schreib, was passiert ist, schreib über Jens Spahn. Der Mann hat uns viel angetan”.
“Das kann man doch so nicht sagen”, sage ich leise und räume die Teller in die Spülmaschine. “Der Jens Spahn hat im Jahr 2020 einen FDP-Vorschlag abgelehnt und sich klar gegen die Leihmutterschaft ausgesprochen, und das rechne ich ihm hoch an.”
“Du musst den Spahn jetzt nicht noch in Schutz nehmen”, sagt die Frau Keuner. “Im selben Jahr hat der Jens Spahn die Widerspruchslösung für “Organspenden” vorgeschlagen, so, wie es die schon in der DDR gab. Damit ist er ja zum Glück nicht durchgekommen. Der Jens Spahn ist ein Karriererist, der ist schon mit 15 in die Junge Union eingetreten. Dann war er ausgemustert und hat eine Banklehre gemacht. Der Jens Spahn ist schon früh auf die schiefe Geldbahn geraten. Eigentumswohnung mit Anfang 20, zwei fette Kredite. Die mussten natürlich abbezahlt werden. Und was macht man, wenn man Geld braucht? Geschäfte. So empfiehlt man sich heutzutage für die Politik. Was in der Steinzeit die fette Beute war, sind heute die dicken Geschäfte… Aber wir reden ja jetzt über Corona. Corona hat gezeigt, wie autoritär unsere Politiker ticken, wie groß ihre Angst ist, Macht und Privilegien zu verlieren. Gehen wir mal zwei Jahre zurück. Also… Bundesgesundheitsminister Spahn muss beweisen, dass er alles im Griff hat. Denn in Deutschland regt sich Widerstand, Impf-Widerstand.”
Ich setze mich wieder zu der Frau Keuner, die mir einen Zettel mit Zitat zuschiebt mit der Bitte, laut vorzulesen: “‘Innerhalb der EU wird das Reisen voraussichtlich nicht von der Impfung abhängig sein’, sagte Spahn der ‘Rheinischen Post’ in der Samstagsausgabe (08.05.2021). `Auch mit den Testungen wird man sich europaweit gut bewegen können’, ergänzte er. Spahn selbst werde seinen Urlaub in Deutschland verbringen. ‘In dieser hoffentlich letzten Phase der Pandemie würde ich keine großen Fernreisen planen, Nordsee statt Südsee quasi’, sagte der CDU-Politiker.” https://www.fr.de/politik/jens-spahn-urlaub-bundesrat-lockerungen-geimpfte-genesene-entscheidung-gesetz-deutschland-sommerferien-zr-90497261.html
“Das ist sowas von autoritär”, sagt die Frau Keuner. “Und wieder einmal wird das schöne Wort “Hoffnung” missbraucht. Hör dir das an: “Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) macht Hoffnung auf den Sommerurlaub in EU-Staaten.” Da stilisiert sich der Spahn auch noch zum Überbringer der Frohen Botschaft. Das ist gönnerhaft. Doch mittlerweile wissen wir, dass nicht nur beim Maskenkauf einige Milliarden Euro Steuergelder verschwendet wurden, sondern auch bei der Beschaffung von Tests. Das war nur zu unserem Schutz, wie die behauptet haben, das ist nicht mal nachgeprüft worden.” https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/pcr-tests-111.html
Die Frau Keuner öffnet sich die frische Flasche Kölsch, die ich ihr aus dem Kühlschrank geholt hab. “Die unbrauchbaren Tests müssen jetzt auch alle vernichtet werden, genauso wie die abgelaufenen Impfstoffe und die unbrauchbar gewordenen Masken. Aber der Olaf Scholz wird sich, sobald der angepasste Corona-Impfstoff da ist, trotzdem ein fünftes Mal impfen lassen. Aus Treue zur Pharmaindustrie und aus Rechthaberei.” Die Frau Keuner trinkt einen Schluck. “Der Scholz wird noch mal so richtig auf die Schnauze fallen… Sach mal, Lisa, heulst du?” Sie reicht mir die Serviette, mit der sie sich vorhin den Mund abgewischt hat.
“Brauch ich nicht”, sage ich leise. “Ich habe nur immer die Bilder im Kopf. Ende August 2021 sind wir nach Frankreich gefahren. Wir mussten uns per Internet anmelden. Und dann brauchten meine jüngere Tochter und ich noch einen negativen Anti-Gen-Test, also waren wir am Tag vor der Abreise in der Test-Station gegenüber vom alten Schlachthof. Ich konnte mich nicht auf den Urlaub freuen. Wie soll man sich in die Vorfreude fallen lassen, wenn man nicht weiß, ob man nicht auf den letzten Drücker doch noch positiv ist. Vor mir war eine ungeimpfte Frau, ein paar Jahre älter als ich. Wenn man älter ist, zeigt man ja nicht mehr so gerne die Zähne, und man reißt man nicht gerne den Mund auf, vor allem nicht in einer Test-Baracke gegenüber vom alten Schlachthof. Die Frau hat geschrien und gelacht. Krampfhaft. Aber irgendwann hat sie dann doch den Mund aufgemacht.”
“Du hast doch den Spahn gehört”, sagt die Frau Keuner und grinst. “Du konntest froh und dankbar sein, als Ungeimpfte überhaupt ins Ausland zu dürfen. Ich war schon lange nicht mehr verreist. Welche Rentnerin kann sich das denn noch leisten? Den Leuten mit der kleinen Rente bringt die Rentenerhöhung nicht viel. Was sind 5% Rentenerhöhung, wenn du nur 600 Euro Rente kriegst? Aber komm jetzt nicht auf die Idee, mich beim nächsten Mal einzuladen. Wie du Urlaub machst, das ist mir einfach zu spießig. Du machst das, was du auch in Köln machst, du mietest für dich und deine Töchter eine bezahlbare Ferienwohnung und bestückst die mit euren Kölner Plörren. In Paimpol angekommen, gehst du nicht direkt zum Hafen, sondern in den Intermarché. Aber auch nur deshalb, weil es da keinen REWE gibt. Am nächsten Tag fahrt ihr drei zum Plage de Behec, aber der Strandtag fühlt sich an wie ein Tag in der Riehler Rheinaue.”
“2021 hat es sich wirklich so angefühlt”, sage ich leise. “Aller Zauber war weg.”
“Ich verschick übrigens Urlaubsfotos”, sagt die Frau Keuner. “Wenn du mir sagst, ich soll dir welche schicken, dann setz ich mich vor meine Fototapete und mach Selfies.”
“Was ist das denn für eine Fototapete?”
“Raufaser”, sagt die Frau Keuner. “Weiß, leicht vergilbt. Aber ich sag dir was. Du hast noch Glück gehabt. Andere Ungeimpfte mussten zu Hause bleiben, nur weil der Test positiv war. Aber negativ war auch nicht viel besser. Hör dir Spahns Satz noch mal genau an. Auch mit den Testungen wird man sich europaweit gut bewegen können – Das ist nicht nur gönnerhaft, sondern richtig böse. Und jetzt setz die Wörter “auch die Ungeimpften” ein, denn die sind ja gemeint. Also… Mit den Testungen werden sich auch die Ungeimpften europaweit gut bewegen können. Woran erinnert dich das?”
Ich ahne, worauf die Frau Keuner hinauswill. “An die elektronische Fußfessel?”
“Genau”, sagt die Frau Keuner. “Und dabei legt man die elektronische Fußfessel nur entlassenen Schwerverbrechern an, vor allem Sexualstraftätern. Das ist durchaus logisch. Aus Sicht der Bundesregierung waren ja alle Ungeimpften Straftäter. Aber sach, hast du die Coronatestfußfessel für einen Moment vergessen?”
“Nein, die Coronatestfußfessel war zwar unsichtbar, aber die hing mir wie ein Klotz am Bein.” Doch jetzt gibt es kein Halten mehr, es bricht aus mir heraus: “Warum haben die mich und meine jüngere Tochter gezwungen, uns testen zu lassen? Wir war doch beide nachweislich immun. Meine ältere Tochter hatte Delta, hohe Virenlast, und wir beide haben mit aller Kraft versucht, uns bei ihr anzustecken, aber es hat nicht geklappt. In der Nachbarschaft ist ein junger Mann krank geworden, obwohl er geimpft war. Der hat die ganze Familie angesteckt, obwohl oder weil die auch alle geimpft waren. Die haben es richtig heftig bekommen. Warum gab es kein großes I für immun. Wozu soll ich mich testen lassen, wenn ich immun bin? Ich konnte und kann alles bezeugen. Und in Frankreich durften wir ohne aktuellen negativen Test nicht einmal ins Café. Und das, obwohl wir immun waren. Ich hatte sogar das positive Testergebnis meiner älteren Tochter und unsere negativen dabei und den Beleg für die zweiwöchige Quarantäne.”
Die Frau Keuner lacht: “Was sollen denn die Franzosen mit Kölner Beweismaterial? Außerdem war General Macron doch genauso rigide. Die Franzosen haben mit der Testung von Touristen richtig viel Knete gemacht. Lisa, du bist ein Störfall.”
“Das weiß ich doch”, sage ich. “Aber etwas in mir hat darauf gehofft, dass der Dr. Nießen vom Kölner Gesundheitsamt auf mich zukommt und mich beglückwünscht, dass er mich fragt, wie ich als Frau über 60 es geschafft habe, mich nicht mit der gefährlichen Delta-Variante zu infizieren.”
“Hömma, Lisa, du bist dermaßen naiv. Du stellst die Zwangsmaßnahmen in Frage und erwartest auch noch Beifall. Aber jetzt mach ich einen Test mit dir. Wessen Haaransatz ist das?”
“Spahn? Beide Male?”
“Und jetzt vergleich mal die beiden Urlaubsbilder von Spahn und Ehemann aus den Jahren 2021 und 2023 miteinander. Im Sommer 2021 war der Spahn noch so doof, ein Selfie zu veröffentlichen. Beide tragen keine Sonnenbrille, auch der Spahn nicht, dabei ist der Spahn Bundesgesundheitsminister. Und jetzt kommt’s. Sein Ministerium hat im Frühjahr des selben Jahres ein Heft seiner kostenlosen Werbebroschüre “Im Dialog” herausgegeben. In Heft 6/April 2021 geht es fast nur um die Impfung, aber auf der Kinderseite (S.34) wird ausdrücklich vor zu viel Sonne gewarnt. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Ministerium/Broschueren/BMG_Dialog_1-2021_bf.pdf
Der Jens Spahn hat für die Broschüre sogar das Vorwort geschrieben. Doch warum hat er die Warnungen seines eigenen Ministeriums nicht ernst genommen? Guck dir noch einmal das Selfie an. Gesundheitsminister Jens Spahn hat Sonnenbrand, knallrote Stirn, knallroter Hals und knallrote Nase. Dat geht doch gar nicht. Wahrscheinlich wollten Spahn und Mann den Beleg dafür liefern, dass es auch in Bayern schön sonnig sein kann, aber doch bitte nicht so. Das sind Top-Fotos für den Pschyrembel.”
“Ein Sonnenbrand kann doch jedem passieren”, sage ich leise.
“Ja, aber doch nicht dem Bundesgesundheitsminister. Der Mann ist doch ein Vorbild, was eine gesunde Lebensweise angeht.”
“Ich kann das so aber nicht in meinen Blog setzen.”
“Zu Zwecken der Aufklärung”, sagt die Frau Keuner. “Als Diashow. Jetzt guck dir bitte das Foto von 2023 an. Das haben Profis gemacht. Mittlerweile hat der Spahn kapiert, dass man als Spitzenpolitiker nicht einfach ein Selfie schicken kann, nicht mit Sonnenbrand und schon gar nicht, wenn der Bundesrechnungshof auf der Matte steht. Das ist jetzt zwei Jahre her, niemand erinnert sich mehr. Sind ja zu viele verstrickt.” Die Frau Keuner trinkt noch einen großen Schluck Bier.
“Ich vermute, dass der Jens Spahn für das Selfie damals einen richtigen Anschiss gekriegt hat. Deshalb musste sich der Spahn einer Styling-Beratung unterziehen. Die Profis haben das Bild aus dem Jahr 2021 genau analysiert. Der Fotograf hat Spahn und Funke aus der prallen Sonne geholt und in den Halbschatten gestellt. Beide Männer tragen jetzt Sonnenbrillen. Das Bild ist auch nicht während einer Wanderung aufgenommen worden, sondern danach. Im Jahr 2023 haben sich die Jungs den Schweiß abgewaschen. Die Klamotten sind nicht mehr schweißgetränkt, sondern sauber. Man sieht, wie die Männer duften. Und da ist noch was.”
“Das Büschel auf Spahns Stirn? So kommt er seriöser rüber.”
“Das auch”, sagt die Frau Keuner. “Aber guck mal auf Spahns Hals. Genau da, wo der Spahn im Jahr 2021 Sonnenbrand hatte, ist zwei Jahre später der Hemdkragen hochgeklappt. Ganz schön schlau.”
“Tach”, sacht meine Nachbarin, die Frau Keuner. Ich bin gerade im Vor-Gärtchen, um Unkraut zu zupfen, da steht die da, hält sich am Gehwagen fest und grinst.
“Tach auch”, sach ich. “Aber ich hab unangekündigten Besuch nicht so gerne.”
“Da solltest du dich in deinem Alter aber langsam drauf einstellen”, sagt die Frau Keuner. “Watt kütt, dat kütt, und zwar oft ohne Anmeldung. Ich sach dir, die Marianne vom Bahnwärterweg, die hatte einen Infarkt. Wie die reanimiert wurde, da hat die sich gesacht: Ich kann noch nich gehen, wie sieht denn die Bude aus? Da is weder aufgeräumt noch geputzt, ich brauch noch wat Zeit. Und jetzt ist die gesund, hat aber einen Putzfimmel. Im Nachhinein sacht die sich: Der Tod hat nur angeklopft, um zu sagen: Marianne,lass deine Bude nich so vergammeln.”
“Welche Marianne vom Bahnwärterweg?”
Die Frau Keuner zuckt die Achseln. “Wurde mir so erzählt. Ich kenn die nicht persönlich. Könntest du mir bitte mal einen Sitzplatz anbieten? Sach mal, hast du die Stühlchen etwa schon für den Winter parat gemacht? Hömma, Lisa, du hast wohl Angst, dass sich eine Gruppe Öko-Touristen in die autofreie Siedlung verirrt und bei dir vorm Haus picknickt. Ich sach dir, die lassen sich nicht davon abhalten, auch wenn die Stühlchen zusammengeklappt sind.”
“Quatsch”, sage ich und klappe der Frau Keuner ein Stühlchen auf.
“Alles Männer, früher lief sowat unter Kegelverein.” Die Frau Keuner setzt sich leicht ächzend. “Da kannst du noch froh sein, dass es Öko-Touristen aus Baden-Württemberg sind, die nehmen ihre Abfälle wieder mit. Alles kann man natürlich nicht wieder mitnehmen. Irgendwann schellt einer aus der Gruppe an und fragt, ob er mal bei dir aufs Klo kann. Und du traust dich nicht, nein zu sagen. Leider hast du das Klo seit drei Wochen nicht mehr geputzt. Du kannst dem Öko-Touristen ja sagen, dass du nicht geputzt hast, weil du Wasser sparen wolltest. Da hat der Verständnis für. Und wat macht der Ökotourist? Zieht nicht ab. Könnte ja noch ein anderer aus der Gruppe aufs Klo wollen.” Kurze Redepause, sehr kurz.
“Und dann passiert ein Malheur”, sagt die Frau Keuner. “Einer aus der Gruppe hat Durchfall und schafft es gerade noch so aufs Klo. Und du, du bist so freundlich, dem anzubieten, bei dir zu duschen. Du hättest sogar ein sauberes Handtuch für ihn. Doch leider hört der Mann nicht auf dich, denn er ist ein Anhänger von Winfried Kretschmann. Du kennst doch den Kretschmann?”
“Natürlich kenn ich den. Der Winfried Kretschmann ist Ministerpräsident von Baden-Württemberg und hat mit dem Markus Söder zusammen schon im November 2021 für die allgemeine Corona-Impfpflicht plädiert. Und das zu einem Zeitpunkt, als allmählich klar wurde, dass es eine neue, harmlosere Corona-Variante gibt, gegen die in keinem Fall massengeimpft werden dürfte. Seitdem weiß ich, wie gut CSU und GRÜNE zusammenpassen. Wenn der Kretschmann redet, hör ich nicht mehr hin.”
“Nicht hinhören ist ein Fehler”, sagt die Frau Keuner. “Für jüngere GRÜNE ist der olle Kretschmann ein Öko-Vorbild, auch für den Habeck. Ich sage dir, wenn du gelesen hättest, was der Kretschmann zum Energiesparen gesagt hat, wärest du gewarnt gewesen. Der Kretschmann hat ein Elektroauto und auf seinem Dach eine riesige Fotovoltaikanlage. Seit die Kinder aus dem Haus sind, heizen die Kretschmanns in der Regel nur noch ein Zimmer. Duschen tun die auch nicht so oft.”
“Das ist doch nicht unvernünftig”, wende ich ein.
“Der Kretschmann ist ein Saubermann”, sagt die Frau Keuner. “Und weißt du, was der Kretschmann wörtlich gesagt hat? … ‘Auch der Waschlappen ist eine brauchbare Erfindung.’ Klingt schlau. Das Problem ist nur, dass ein gebrauchter Waschlappen gründlich gewaschen werden muss. Im Waschlappen bleibt hängen, was beim Duschen im Abfluss verschwindet. Lisa, du wirst doch irgendwo noch einen Waschlappen haben.“
“Für den Ökotouristen?”, frage ich leise.
“Der hat eigene dabei”, sagt die Frau Keuner. “Das Problem ist nur, dass der Ökotourist die Waschlappen nicht feucht in den Rucksack packen kann. Also lässt er sie da, und zwar für deine nächste 60°-Wäsche. Seine olle Unterbuxe kommt auch noch dazu, denn er hat frische Wechselwäsche dabei. Kann eine Weile dauern, bis die Maschine voll ist, aber der Öko-Tourist ist ein alleinstehender Rentner mit Senioren-Bahncard und 49-Euro-Ticket. Der kommt wieder. Ich sach dir, Turteln ist ziemlich unromantisch, wenn man über 60 is.”
“Turteln?”, sage ich leise. “Auch das noch.” Ich klappe einen zweiten Stuhl auf und setze mich..
“Lisa,” fängt die Freu Keuner wieder an, “sei froh, dass du keine wichtige Person bist und nur ein ömmeliges Reihenhaus hast. Als der Jens Spahn noch in seiner Dahlemer Villa gewohnt hat, standen ständig die Gaffer vorm Haus. Ich meine, wie konnte der Mann so naiv sein zu meinen, dass die Leute Beifall klatschen, wenn sich der Bundesgesundheitsminister im Sommer 2020 eine Fünf-Millionen-Euro-Villa für den Luxus-Lockdown kauft, während sich die Menschen in ihren kleinen Wohnungen auf der Pelle hängen. Und wie kann der Jens Spahn so doof sein, ein Paket anzunehmen, wo kein Absender draufsteht. Da kann doch nur Kacke drin sein.”
“Bah!”
“Genau”, sagt die Frau Keuner. “Aber im Wahlkampf machen die Politiker dann auf Piep, piep, piep – Wir haben uns alle lieb. Wie der Jens Spahn vor zwei Jahren. Da hat er mitten im Bundestags-Wahlkampf auf Instagram ein Urlaubs-Selfie gepostet, und zwar vom Tegernsee. Guck es dir im Internet an, im Vordergrund sieht man Jens Spahn und Mann und im Hintergrund eine Berglandschaft. Die Schlagzeile auf rtl.de war, Moment… ” Die Frau Keuner kramt einen Zettel aus der Jackentasche. “Also, die Schlagzeile war: Jens Spahn (CDU) schickt Grüße aus dem Liebesurlaub in den Bergen. Ist das nicht promi-primitiv? Ich sach dir, im Anschluss an die Nachricht vom Liebesurlaub in den Bergen hat der Spahn noch mehr Pakete ohne Absender gekriegt. Ich schick dir den Link, denn den brauchst du noch.” https://www.rtl.de/cms/jens-spahn-sendet-urlaubsgruesse-gesundheitsminister-mit-ehemann-am-tegernsee-4809772.html
“Wieso brauch ich den Link?”
“Für den Blog-Beitrag, den du schreibst”, sagt die Frau Keuner. “Ich bin übrigens für die gleichgeschlechtliche Ehe. Das Problem ist nur, dass die gleichgeschlechtlichen Promi-Ehepaare in aller Regel genauso spießig sind wie die heterosexuellen. Vor allem die von der CDU. Ich sehe da eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Pärchen Jens und Daniel und dem Pärchen Hannelore und Helmut. Die Kohls sind ja auch immer in die Berge gefahren. An den Wolfgang-See in Österreich, und der Helmut Kohl wollte nie mit der Familie alleine sein, der wollte die Presse immer dabei haben… Hömma, Lisa, wat sitzt du da die ganze Zeit so doof rum? Hast du wohl mal bitte ein Kissen für mich?”
Ich gehe ins Haus und hole ihr eins. “Für die Hannelore Kohl muss das entsetzlich gewesen sein”, sagt die Frau Keuner. “Wo sie doch unter einer Lichtallergie litt. Licht ist aggressiv, wenn es zu viel wird, vor allem das Licht der Öffentlichkeit… Aber da will ich gar nicht dran denken.” Die Frau Keuner seufzt, aber dann lächelt sie und singt: “Im Salzkammergut, da kann man gut lustig sein…” Summt, guckt selig. Das Summen geht in ein Brummen über und dann in ein leises Schnarchen.
“Frau Keuner?”
“Schon gut”, sagt die Frau Keuner und gähnt. “Wo war ich noch. Also… Erinnerst du dich noch an die weltweite Reisewarnung vom Auswärtigen Amt, als sie wegen Corona die Grenzen dichtgemacht haben? Das war im Frühjahr 2020. Da hatte der Markus Söder Angst, dass der bayrische Tourismus zusammenbricht. Der Söder hat damals einen kernigen Satz gesagt, der auch noch lustig sein sollte, von oben herab, der Söder kennt ja nur die eine Richtung… Moment, ich muss den noch zusammenkriegen… Also: “Wer Österreich genießen will, der kann das auch in Bayern tun.” Wäre ich eine österreichische Hotelkraft, wäre ich schwer bedient gewesen, aber die Österreicher haben sich angeblich geschmeichelt gefühlt. Is ja klar, jedes Land will heute Genießerland sein. Is ja auch lecker da. Kennst du Frittatensuppe?” Ich schüttele den Kopf.
“Du kannst in Bayern keinen Österreich-Urlaub machen”, fährt die Frau Keuner fort. “Doch bei der Frittatensuppe geht das, die kannst du auch in Bayern kochen, sogar vegetarisch. Aber einer wie der Söder wird unruhig, wenn er kein Fleisch kriegt. Der braucht ein ordentliches Stück Fleisch im Bauch. Das sättigt nicht nur, das macht stark. Fleisch ist angeblich auch gut für die Wehrkraft. Deshalb hat der Markus Söder im Frühjahr 2022 ein großes Weißwurst-Frühstück für US-amerikanische Soldaten veranstaltet. Moment, ich kann den Twitter-Text nicht auswendig.”
Die Frau Keuner holt einen weiteren Spick-Zettel aus der Jackentasche und faltet ihn auseinander: “Ich muss mich jetzt zusammenreißen, denn ich esse dermaßen gerne Weißwürste. Wenn ich beim Reden kurz pausiere, liegt das daran, dass mir das Wasser im Mund zusammenläuft.” Die Frau Keuner stockt, schluckt und redet dann weiter. “Aber die Weißwürste, die man in Köln kaufen kann, haben keine richtige Pelle mehr. Dat beißt sich nicht nur wie Bockwurst, dat bricht sich auch wie Bockwurst.” Die Freu Keuner seufzt. “Die Pelle von der echten Weißwurst ist so derb, dass man die Wurst nur biegen kannst.”
Die Frau Keuner stockt, schluckt und redet dann weiter. “Also, auf dem offiziellen Twitter-Account vom Markus Söder steht am 11. März 2022: ‘Größtes Weißwurst-Frühstück in Bayern: US-Soldaten verteidigen unsere Demokratie auf der ganzen Welt. Dafür danken wir herzlich mit bayerischen Spezialitäten auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr. Wir sind verlässliche Partner und stehen vereint zusammen für Frieden und Freiheit.` Das war nur wenige Wochen nach Beginn des Kriegs in der Ukraine, die USA hatten schon mächtig viel Geld in den Irrsinn gepumpt.”
“In der Weißwurst, die man hier kaufen kann, ist kaum noch Petersilie drin”, sage ich leise.
“Darf auch nicht zu viel drin sein”, sagt die Frau Keuner. “Auf Twitter kannst du dir die Fotos vom Weißwurst-Frühstück angucken, da steht der Söder für Weißwürste an, natürlich an vorderster Front. Und er trägt eine FFP2-Maske, was in dem Zusammenhang schon ein bisschen unpassend ist. Nach dem Motto: Ungeschützt im Schützengraben? Nie wieder! Ich versteh aber schon, dass der Söder maskiert war.”
“Warum?”
“Ich würde auch eine Maske tragen, wenn ich Politiker wäre und meine Ehefrau wäre nicht nur seit Ende 2020 Schirmherrin über die berittenen Einheiten der Bayerischen Polizei, sondern auch eine erfolgreiche bayrische Unternehmens-Erbin und Unternehmerin, die versucht hat, mit Corona-Masken zu handeln. Die Frau Baumüller-Söder hat ja angeblich beste China-Kontakte. Da gab es einen erhellenden Artikel im Merkur. Moment… Ich geb dir den Link. Aber die Karin Baumüller-Söder hat immer betont, dass sie mit der Masken-Beschaffung keine Geschäfte machen wollte, sondern nur helfen. Is dat nich lieb?” Ich nicke. https://www.merkur.de/bayern/nuernberg/ehefrau-karin-baumueller-corona-masken-deals-ffp2-csu-bayern-soeder-91483544.html
Die Frau Keuner lacht. “Lisa, lies bitte die Kommentare, die unter dem Artikel stehen. Manche sind ja kritisch, aber andere… Verstehst du die Sprache? Weißt du, was eine g’führige Piste ist? Was sagst du zu diesem Kommentar? Aus Schnee von Vorgestern kann man keine g’führige Piste mehr bauen…“
“Was das Skifahren angeht, bin ich leider unsportlich”, antworte ich.
“Nicht nur, was das Skifahren angeht”, sagt die Frau Keuner. “Ich hab dich kürzlich an der Tischtennis-Platte gesehen. Schon mal wat von Rückhand gehört?”
“Aber das war ich nicht! Ich spiele schon seit Jahren kein Tischtennis mehr.”
“Dann war das eben deine Doppelgängerin”, sagt die Frau Keuner. “Je älter man wird, desto mehr Doppelgängerinnen hat man. Aber du solltest wirklich an deinem Outfit feilen. Guck dir den Söder an, der sieht immer gut aus, nicht nur wegen der Landtagswahl im Oktober. Und er hat einen gesunden Appetit. Kennst du den Hashtag #Söderisst?” Ich schüttele den Kopf.
“Söders Lieblingsgerichte sind Nürnberger Rostbratwürste und Kalbskopf mit Kartoffelsalat”, sagt die Frau Keuner. “Den Kalbskopf hat die Mutter Söder immer für den Markus gekocht. Für den Hashtag macht er die Fotos selber, auch die vom Kalbskopf, aber an die eigene Visage lässt er nur Profis ran. Da gab es jetzt diesen Skandal. Der Söder ist ja wirklich fotogen, volle Haare, gute Figur, stattliche Erscheinung, markante Züge, grimmiger Blick. Dass der Bayrische Ministerpräsident fotografiert wird, ist ja normal, aber während seiner Amtszeit haben sich die Ausgaben für Fotos vervielfacht. Dat sind Steuergelder, geht gar nicht.” https://www.welt.de/politik/deutschland/article246678732/Markus-Soeder-Fotos-von-Bayerns-Ministerpraesident-kosten-Steuerzahler-220-000-Euro.html
“Lisa, magst du Strammer Max?”
“Ja”, sage ich. “Wenn der nicht ganz so stramm ist, ohne Schinken, mein ich.”
“Ohne Fleischteil ist dat aber nach Meinung von Markus Söder kein Strammer Max mehr”, sagt die Frau Keuner. “Ende April 2022 war auf #Söderisst ein kompletter Strammer Max abgebildet, mit Käse und Schinken. Und wie nennt der Söder das Tellergericht, das er serviert kriegt? Strammer Max für Markus. Kannst du so in die Suchmaschine eingeben. Da redet ein Ministerpräsident von sich selber in der dritten Person. Ist das nicht peinlich? Die Food-Fotos hat der Söder alle selber geknipst. Aber guck dir mal Strammer Max für Markus an: Ich sage dir, die Spiegeleier waren definitiv zu lange in der Pfanne, das Eiweiß ist porös und leicht angebacken, das Häutchen über dem Eigelb ist schon ledrig, der Schinken ist billiger Pressschinken und der Käse abgepackter Allgäuer Emmentaler, und dann steht im Hashtag nicht einmal, wo der Söder das fotografiert hat.” Die Frau Keuner hält mir ihr Smartphone hin.
“Viel sehe ich ohne Lesebrille nicht”, sage ich. “Aber dieser Stramme Max für Markus sieht kaltgeworden aus. Geht schnell bei Ei.”
“Sach, Lisa, du kennst dich doch ein bisschen aus. Woher kommt der Ausdruck Strammer Max?” Ich zucke die Achseln, aber die Frau Keuner gibt Strammer Max bei Wikipedia ein, fängt an zu lachen, prustet, grunzt. “Dat darf doch nicht wahr sein.”
“Was steht denn da?”, will ich wissen, geh ins Haus und schnapp mir die Lesebrille. “Kann ich wohl mal gucken?”
Die Frau Keuner reicht mir ihr Smartphone: “… Der Ausdruck Strammer Max wurde um 1920 im Sächsischen mit der Bedeutung „erigierter Penis“ gebildet und anschließend auf das Gericht übertragen, wohl weil es ein besonders „kräftigendes“ belegtes Brot ist…” https://de.wikipedia.org/wiki/Strammer_Max
“Jetzt tut mir der Markus Söder fast schon wieder leid”, sage ich.
“Der muss dir nicht leid tun”, sagt die Frau Keuner. “Der Söder betrachtet Bayern als sein persönliches Familienunternehmen.”
“Aber das darf doch nicht passieren. Warum sagt ihm das denn keiner?”
Die Frau Keuner grinst: “Dass Strammer Max eigentlich Strammer Schwanz heißt? Es ist, wie es ist. Der Söder hat Strammer Schwanz für Markus bestellt.”
“Pst”, jammere ich. “Der Markus Söder muss Strammer Max für Markus sofort von seinem Hashtag #Söderisst? runternehmen. Der macht sich doch lächerlich.”
“Der Markus Söder soll sich ruhig so zeigen, wie er ist und frisst, denn so geht das nicht weiter. Was bildet sich der Mann eigentlich ein? Wer Österreich genießen will, der kann das auch in Bayern tun... Das erinnert mich an die DDR-Staatsführung. Weißt du, was die damals zu den DDR-Bürgern gesagt haben? ‘Wenn es euch auch nach Italia zieht, dann seid ihr mit Eforie Nord doch viel besser bedient.’ Die SED-Elite war eine geschlossene Gesellschaft. Die Bonzen waren damals schon so schlau, fernab vom Massentourismus auf der Ostsee-Insel Vilm Nobel-Urlaub zu machen. Das Volk ist währenddessen zum Schwarzen Meer gefahren und hat in den Trabis geschlafen. Gardinen vorm Autofenster. Die Hotels waren für die Westdeutschen reserviert. Die hatten ja West-Mark. Wenn ich DDRlerin gewesen wäre, hätte ich die Wessis dermaßen gehasst.”
“Ich hätte uns nicht gehasst, aber fürchterlich gefunden”, sage ich.
“Die haben uns damals schon gegeneinander ausgespielt”, sagt die Frau Keuner. “Und wie gehen die Politiker mit unserem Geld um? Als der Jens Spahn im Jahr 2021 seinen Liebesurlaub gemacht hat, stand der schon sehr unter Druck. Der hatte ja ohne Ende auf dicke Hose gemacht und vom Bundesrechnungshof einen Anschiss gekriegt. Die haben dem Gesundheitsministerium Geldverschwendung vorgeworfen, du erinnerst dich vielleicht, da ging es um die Beschaffung von Schutzmasken. Spahns Ministerium hatte viel zu viele Masken bestellt und dann nicht bezahlt. Das ist so primitiv, dass da keiner drauf kommt.”
Die Frau Keuner macht eine kurze Pause und redet dann weiter. “Schon im Frühjahr 2021 hatte der Unternehmer Walter Kohl, CDU, Sohn vom Helmut Kohl, CDU, das Bundesgesundheitsministerium verklagt. Der Skandal ist ja nicht nur, dass die Masken nicht bezahlt wurden, sondern dass ausgerechnet der Sohn vom Kohl den Großauftrag hatte. Und jetzt gib bitte bei Google “Maskendeals” ein. Dann siehst du, wer da alle beteiligt war. Eine einzige Vettern- und Ehegattenwirtschaft. Die meisten aus dem Umkreis von CDU/CSU. Alfred Sauter und Georg Nüßlein, Andrea Tandler, Tochter vom ehemaligen CSU-Generalsekretär Gerold Tandler u.u.u. Die Burda GmbH hat mehr als eine halbe Million FFP2-Masken an das Bundesgesundheitsministerium verkauft. Und wer leitet die Burda-Repräsentanz in Berlin? Daniel Funke, der Ehemann von Jens Spahn.”
“Ich hab noch paar Masken übrig”, sage ich. “Rosa”.
“Die kannst du wegschmeißen”, sagt die Frau Keuner. “Angeblich taugen die alle nicht mehr. Im Juni habe ich gelesen, dass 755 Millionen Schutzmasken vernichtet werden müssen. Dabei haben sie von Anfang an versucht, den Maskenkonsum ankurbeln, um die teuer bezahlten Dinger irgendwie loszukloppen. Das war dermaßen primitiv. Und wie sie die älteren Menschen veräppelt haben. Weißt du noch, da haben alle gesetzlich Krankenversicherten über 60 einen Brief von der Bundesregierung gekriegt, im Januar 2021. Vielleicht erinnerst du dich, dieses Schreiben, wo stand, dass alle über 60 ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf haben. Die Bundesregierung hat behauptet, dass sie uns schützen will. Und dann hat da gestanden, dass man bis zum 6. Januar drei Masken mit hoher Schutzwirkung kostenlos kriegt. Der Brief war undatiert, und da stand nicht einmal ein Neujahrsglückwunsch drunter. Das hat mich stutzig gemacht. Das Schreiben war halbseiden und primitiv, die Absende-Adresse war München-Flughafen.”
Für mich gibt es kein Halten mehr. Ohne Rücksicht auf Baden-Württemberger Ökotouristen oder andere Passanten tanze ich im Sitzen, ich bewege mich wie blöd und und singe eine Melodie, die mir einfach so kommt. Da Da Da Da Da …. Da Da Da Daaaaa.
Die Frau Keuner strahlt und reckt den Daumen. “Boah, Lisa, dat ist aus den späten 60ern und die alte Erkennungsmelodie von… Wie hieß die Sendung noch?”
“Aktenzeichen XY… ungelöst“, sage ich. “So heißt die immer noch.”
“Dieser Fall ist längst gelöst”, sagt die Frau Keuner. “Nur hat das keine Konsequenzen. Die Masken-Deals gelten als Kavaliersdelikte. Sauter und Nüsslein dürfen sogar ihre fetten Provisionen behalten. Die sahnen ab, aber für uns gibt es nicht einmal den versprochenen Trostpreis. Knausrig waren die auch noch. Der Brief von der Bundesregierung ist erst Mitte Januar angekommen, da waren die kostenlosen FFP2-Masken längst weg. Wenn es die je gegeben hat. So lockt man die älteren Menschen in die Apotheke. Leider war ich so wütend, dass ich den Brief weggeschmissen hab.”
“Ich hab den Brief auch erst Mitte Januar gekriegt”, sage ich. “Das war auch zu spät fürs Lockangebot. Aber ich hab den Brief aufbewahrt. Für meinen Blog.”
“Hui”, macht die Frau Keuner. “Ich bin jetzt mal kurz weg. Aber heute Abend komm ich wieder. Und du hast bis dahin Kölsch besorgt und kalt gestellt. Und brat mir bitte paar Buletten. Dass du das Beweismaterial noch hast, dieses unseriöse Schreiben von der Bundesregierung.”
Ich wusste nicht, dass sie dazu in der Lage ist, aber die Frau Keuner lächelt. “Lisa, ich liebe dich.”
In dIesem Jahr ist der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn nicht in die deutschen Berge gefahren, sondern nach Südtirol. In einem Artikel auf rtl.de lautet die Schlagzeile: Sonnige Grüße mit Lederhosen: Jens Spahn teilt privaten Urlaubsschnappschuss
Abgebildet ist ein Foto, das Spahn auf Instagram gepostet hat. Jens Spahn und Ehemann Daniel Funke zeigen sich -wie schon beim Oktoberfest im Jahr 2018- in feschen Lederhosen. Ein Bild-Ausschnitt:
Die Jungs, mit denen ich Ostern 1965 eingeschult wurde, spielten immer dasselbe Spiel. In den Pausen näherten sie sich uns Mädchen von hinten, hoben uns den Rock hoch und riefen laut (damit alle es mitkriegten): “Deckel hoch, der Kaffee kocht.” Anders als die altklug-coolen Mädchen von heute fanden wir die Jungs nicht sexistisch oder frauenfeindlich, sondern einfach nur nervig. Wir Mädchen guckten uns die Jungs natürlich auch an, aber weniger plump. Da sie im Sommer alle in kurzen Lederhosen (die man weder waschen musste noch konnte) rumliefen, bekamen wir ihre drahtigen Beine zu sehen. Den Rest konnten wir uns denken. Da wir zu den geburtenstarken Jahrgängen gehörten, hatten die meisten von uns Brüder und kannten sich aus. Ich finde Männer-Knie nach wie vor erotisch. Diese hier sprechen meine Betrachtungsfreude an. Vor allem die Knie links im Bild haben es mir angetan. Doch who is who? Welche Knie gehören zu wem, können wir Jens Spahn an seinen Knien erkennen? Wer die Lösung wissen und das ganze Foto sehen will, möge folgenden Link anklicken: https://www.rtl.de/cms/jens-spahn-urlaub-in-lederhosen-politiker-teilt-privaten-schnappschuss-mit-seinem-mann-5052702.html
Während ich die Knie betrachte, kommt mir ein bekanntes Lied in den Sinn. Den Refrain kennen die älteren unter uns auswendig. Was machst du mit dem Knie, lieber Hans, mit dem Knie, lieber Hans, beim Tanz… Gleich kommt mir die Idee für ein Elfchen. Der Tanz wird zum Tänzchen, Hans zum Hänschen, das reimt sich auf JensCHEN.
Was machst du mit….
… dem
Knie, lieber
Jens, mit dem
Knie, lieber Jens, beim
Dance…
Das Lied, dessen Refrain ich hier nur leicht variiere, ist fast hundert Jahre alt: Was machst du mit dem Knie, lieber Hans, beim Tanz (1925) …. Aus der Perspektive der Geliebten erzählt das Lied mit leisem Spott von Hans, der beim Tanzen eine große Leidenschaft entwickelt, sich aber, wenn sie mit ihm alleine ist, als langweilig entpuppt. Hans will gesehen werden, er braucht Publikum.
So porträtiert Autor Fritz Löhner-Beda (Bedřich Löwy) den eitlen Gockel, der sich permanent zur Schau stellen muss: Man sieht mich, also bin ich (lebendig). Im VIP-Zeitalter hat sich die Lage zugespitzt. Heutzutage ist die politische und mediale Bühne bevölkert von egozentrischen Sebstdarstellern. Jens Spahn ist einer von ihnen.
Abgedruckt ist das Lied unter anderem im Internet- Volksliederarchiv des Bremer Verlags Müller-Lüdenscheidt. https://www.volksliederarchiv.de/schlager/was-machst-du-mit-dem-knie-lieber-hans/ Dieses Archiv (eine Fundgrube!) stellt die Lieder nicht nur vor, sondern liefert Hintergrundinformationen. Eine zentrale Frage ist die nach Ursprung und Urheberschaft: Wo und wann ist das Lied entstanden, wer hat das Lied getextet bzw. komponiert?
Genauigkeit ist schon deshalb wichtig, weil das Internet -gerade was die Urheberschaft betrifft- zahlreiche Fehlinformationen enthält. So wird als Schöpferin des Lied Was machst du… gerne Brigitte Mira genannt, die das Lied allerdings nur interpretiert hat, schön, aber ein bisschen zu schön. Aber warum kommt mir das Lied in Brigitte Miras Interpretation glatt und gefällig vor?
Ich höre mir die Mira-Version auf verschiedenen You-Tube-Kanälen an und bekomme die Antwort. Brigitte Miras Vortrag endet bereits mit der sechsten Strophe:
Warum wippst du mit den Schultern so sehr? Und was hüpfst du wie ein Floh hin und her? Und was machst, ja was machst du mit dem Knie, lieber Hans, beim Tanz?
Dass Brigitte Mira das Lied verkürzt, ist ärgerlich, denn in den letzten vier Strophen, die sie ausspart, entfaltet das Lied seinen tiefgründigen Humor.
Hans hat Angst, mit der Geliebten alleine zu sein, und flieht ins Büro:
Sind wir allein einmal beim Wein in unserm Zimmer dann musst du immer gleich ins Büro
Doch in Gesellschaft bin ich dir ganz unersetzlich da zwickst du plötzlich mich a propos. (Strophen 7 und 8)
Schade, aber es gibt die Gelegenheit, sich das großartige Lied in ungekürzter Fassung anzuhören. Ich persönlich empfehle trotz angekratzter Tonqualität die Interpretation von Franzi Ressel aus dem Jahr 1925. Mit ihrem schnellen Gesang und den leichten Kieksern in der sich immer wieder überschlagenden Stimme bringt Franzi Ressel die spöttische Gereiztheit der Geliebten ganz wunderbar zum Ausdruck. https://www.youtube.com/watch?v=Emt_JKm2RFk
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Zur Lebensgeschichte der Juden Bedřich Löwy (Autor) und Richard Fall (Komponist):
“Bedřich Löwy wurde am 24. Juni 1883 in Wildenschwert, Böhmen geboren. Der Wiener Librettist, Schlagertexter und Schriftsteller gehörte zu den populärsten deutschsprachigen Lieddichtern seiner Zeit. Er veröffentlichte dabei meist unter dem Namen „Beda“ bzw. Fritz Löhner-Beda. Zu seinen größten Erfolgen gehören Operetten-Libretti wie „Land des Lächelns“ oder „Ball im Savoy“ und natürlich Lieder wie „Ausgerechnet Bananen“, „In der Bar zum Krokodil“, „Du schwarzer Zigeuner“, „Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren“, „Rosa wir fahrn nach Lodz“ und „Dein ist mein ganzes Herz“. Aus seiner Feder stammt ebenfalls das „Buchenwaldlied“. Am 4. Dezember 1942 wurde er im KZ Auschwitz III Monowitz ermordet.” https://www.volksliederarchiv.de/lexikon/loehner-beda/ Die Seite zitiert auch einen Brief an den Spiegel aus dem Jahr 1974, der beschreibt, auf welch grauenvolle Weise Bedřich Löwy ermordet wurde.
Im Sommer 2016 hatte der Kölner Erzbischof Kardinal Rainer Maria Woelki einen bemerkenswerten Auftritt. Nachdem immer mehr Details über Gewalt in den (überwiegend) katholischen Kinderheimen der Nachkriegsjahrzehnte publik geworden waren und der öffentliche Druck immer größer wurde, hatte die Katholische Kirche keine andere Wahl, als öffentlich um Verzeihung zu bitten. Bei der “Tagung für ehemalige Heimkinder der Behindertenhilfe und Psychiatrie und die interessierte Fachöffentlichkeit” sagte Woelki am 23.6.2016 in Berlin: „Als Vorsitzender der Caritaskommission der Deutschen Bischofskonferenz sage ich ausdrücklich, dass ich die damals in den katholischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie ausgeübte physische, psychische und sexuelle Gewalt zutiefst bedauere und die Betroffenen dafür um Entschuldigung bitte. Kirchliche Organisationen und Verantwortliche haben in diesen Fällen dem christlichen Auftrag, Menschen mit Behinderung und psychiatrisch Erkrankte in ihrer Entwicklung zu fördern und ihre Würde zu schützen, nicht entsprochen.” https://www.erzbistum-koeln.de/news/Gewaltx_Missbrauch_und_Leid_an_Behinderten_zwischen_1949_und_1975/
Mit seinem Vortrag nahm Woelki Bezug auf eine Studie, die die Katholische Kirche bzw. der Deutsche Caritasverband mit seinem Fachverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) in Auftrag gegeben hatte: „Heimkinderzeit”. In der Studie kommen überlebende Betroffene zu Wort- und erzählen unabhängig voneinander Entsetzliches. Die Studie bringt ans Licht, dass Kinder und Jugendliche (nicht nur) mit Behinderung in der Zeit zwischen 1945 -1975 in den überwiegend katholischen westdeutschen Heimen massiven Gewalterfahrungen ausgesetzt waren und Missbrauch sowie psychisches und physisches Leid erleben mussten. Für Projektleiterin Prof. Dr. Annerose Siebert war der Alltag der Heimkinder “durchzogen von Unterordnung, Isolation und Gewalt” (zitiert nach spiegel.de). Brutalität war nicht die Ausnahme, sondern die Regel, wenn es in den Einrichtungen auch immer wieder einzelne Erwachsene gab, die die Kinder in Schutz genommen und ihnen geholfen haben.
Nach dem Schuldeingeständnis von Seiten der Katholischen Kirche musste gehandelt werden. Die überlebenden Betroffenen wurden als Gewaltopfer anerkannt und konnten ihre Ansprüche auf eine (beschämend geringe) finanzielle Entschädigung von 9.000€ geltend machen, die von der Stiftung “Anerkennung und Hilfe” (Bund, Länder, Katholische und Evangelische Kirche) getragen wurde. “Heimkinderzeit” war nicht nur eine zentrale und bedeutende Aufklärungsleistung, sondern gab den Anstoß für weitere Studien und Forschungsarbeiten. Und doch erzählt “Heimkinderzeit” nicht die ganze Wahrheit.
Denn an anderer Stelle war längst weiter geforscht worden. Dem Mut, der Klugheit und Beharrlichkeit der Pharmazeutin Sylvia Wagner haben wir es zu verdanken, dass noch eine weitere entsetzliche Variante der Gewalt ans Licht kam: Der körperliche und seelische Missbrauch von Schutzbefohlenen mit den Mitteln der Medizin. Im Rahmen ihrer Dissertation im Jahr 2016 entdeckte Sylvia Wagner zahlreiche Hinweise auf medizinisch-pharmazeutische Experimente an Heimkindern, die unter dem Vorwand, psychisch krank zu sein und behandelt werden zu müssen, in die Psychiatrie kamen. Noch vor Fertigstellung ihrer Doktorarbeit gab Sylvia Wagner Ergebnisse an die Öffentlichkeit weiter, so dass kritische Medien berichten konnten.
Bereits am 2.2.2016, also einige Monate vor der Veranstaltung, auf der Woelki seinen großen Auftritt hatte, veröffentlichte spiegel online einen Artikel, der im besten Sinne aufklärt und sich auf die Forschungsergebnisse von Sylvia Wagner beruft. Den eindeutigen Hinweisen auf den schweren Missbrauch mit den Mitteln der Medizin hätten die entsprechenden kirchlichen und staatlichen Aufklärungs-Gremien im Vorfeld der “Tagung für ehemalige Heimkinder der Behindertenhilfe und Psychiatrie und die interessierte Fachöffentlichkeit” unbedingt und unverzüglich nachgehen müssen, was offenbar nicht geschehen ist.
Daniela Schmidt-Langels, Autorin des Spiegel-Artikels, beschreibt, wie eng und unselig Anstalten und schwer belastete Ärzte mit den Pharmaunternehmen kooperierten: “Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf war bis Anfang der Sechzigerjahre Hans Heinze, ein skrupelloser Arzt mit Nazivergangenheit. Während der NS-Zeit war er Gutachter des Euthanasie-Mordprogramms T4, bezeichnete unzählige Kinder als “lebensunwert” und schickte sie in den Tod. Nach 1945 konnte er seine Karriere in Wunstorf fortsetzen.Unter seiner Leitung mussten Anfang der Sechzigerjahre Heimkinder über längere Zeit die Arznei Encephabol mit dem Wirkstoff Pyritinol schlucken. Der Versuch fand in Kooperation mit der herstellenden Pharmafirma Merck statt. Der Darmstädter Konzern brachte das Medikament 1963 auf den deutschen Markt, es wird heute als Antidemenzmittel verkauft. Die Ergebnisse der Studie veröffentlichte Heinze in einer medizinischen Fachzeitschrift – einer der wenigen bisher bekannten Belege für Medikamententests mit Heimkindern.” https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/medikamententests-in-deutschland-das-lange-leiden-nach-dem-kinderheim-a-1075196.html
Einen Einblick in die Abgründe gibt ein Interview mit Sylvia Wagner (Interviewerin: Valerie Höhne), das neun Monate später, -am 2.11.2016- auf taz.de erschien. https://taz.de/Pharmazeutin-ueber-Arzneitests-im-Heim/!5350110/ Da Valerie Höhne kluge und genaue Fragen stellt, die von Sylvia Wagner entsprechend präzise und offen beantwortet werden, habe ich mir erlaubt, zentrale Passagen vom Bildschirm abzufotografieren:
Wir müssen davon ausgehen, dass auch Verantwortliche der Kirche diese entsetzlichen Versuche damals “ab-gesegnet” haben.
Daniela Schmidt-Langels ist übrigens auch Autorin eines Films, der vier Jahre nach Erscheinen des Spiegel-Artikels am 3.2.2020 in der ARD erstausgestrahlt wurde: “Versuchskanichen Heimkind”. In diesem Film kommen Betroffene zu Wort, die durch die medizinisch-pharmazeutischen Versuche so tief verletzt wurden, dass ihr weiteres Leben schwer beeinträchtigt bzw. zerstört wurde. https://www.fernsehserien.de/filme/versuchskaninchen-heimkind
Mit düsteren Bildern, untermalt mit unheilvoller Musik, lässt uns der Film die leidvollen Erfahrungen der Kinder nachempfinden. Das erste Bild ist eine Luftaufnahme des alten Backstein-Gebäudes der Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf. Von oben nähert sich die Kamera dem Gebäude und bewegt sich auf das alte Portal zu. Während wir dem Eingang näher kommen, wird der rote Backstein grau, verliert der Film die Farbe, wird schwarzweiß. Die Kamera nimmt uns mit in den Innenraum. Alles ist in ein kaltes Blau-Grau getaucht. Wir sehen einen Jungen, der Pillen schluckt. Die Räume sind abgedunkelt, die Flure kalt. Später sehen wir ein Mädchen, das auf einem Tisch sitzt, sie trägt einen weißen Umhang und beugt sich nach vorne, ihr Rücken ist für die Punktion freigemacht, wir sehen einen Mann im weißen Kittel, medizinisches Instrumentarium.
Für Manfred Kappeler, emeritierter Professor für Sozialpädagogik, kommen die neuen Ergebnisse nicht überraschend. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Situation der Heimkinder: “Die Kinder und Jugendlichen in den Heimen, um die sich keiner kümmerte, die waren eine ideale Population, um an ihnen Medikamente ausprobieren zu können. Sie konnten sich nicht wehren, sie waren vollständig ausgeliefert… Und wenn es in einem Heim zu einer Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie kam, dann gab es niemanden, der das von außen hätte kontrollieren können. Also, man war davon überzeugt, an diesen Kindern und Jugendlichen, wie vorher an den KZ-Häftlingen, kann man ausprobieren, was für den medizinischen Fortschritt gut ist.” (Versuchskaninchen Heimkind, min.11.15 bis 11.57)
Der Film porträtiert drei Menschen, die als Kinder bzw. Jugendliche Opfer des medizinischen Missbrauchs wurden. Wolfgang Wagner, geboren 1959, wird als uneheliches Kind seiner Mutter weggenommen und ins Säuglingsheim gesteckt. Als Achtjähriger erhält er die Diagnose “schwachsinnig”. Er wird in die Essener katholische Behinderteneinrichtung Franz-Sales-Haus abgeschoben und mit Neuroleptika ruhig gestellt. Hier erlebt er die brutalen Erziehungsmethoden des ehemaligen Wehrmachts-Arztes Waldemar Strehl (“Kotzspritze”), der noch bis 1969 als leitender Arzt in der Einrichtung tätig war. Strehl war ein Sadist, der die Injektionsspritze anstelle von Rohrstock und Peitsche. gezielt einsetzte. Zur Zweckentfremdung medizinischer Instrumente als Hilfsmittel brutal-autoritärer Erziehung vgl.: https://stellwerk60.com/2021/09/17/groko-stoppen-teil-2-der-titel-schuetzt-vor-torheit-nicht-impfarzt-prof-auflauerbach/ Wolfgang Wagner, der nie “schwachsinnig” war, wird insgesamt zwölf Jahre im Franz-Sales-Haus festgehalten, wo man über all die Jahre verschiedene Medikamente in unterschiedlichen Dosierungen an ihm ausprobiert.
Marita Kirchhof, geboren 1953 als uneheliches Kind, wird von ihrer Mutter ins Säuglingsheim abgegeben und wächst im städtischen Kinderheim Hildesheim auf. Hier gilt sie irgendwann als “renitent und abnorm”. Daher bringt man sie zur Begutachtung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf. Hier muss sich die achtjährige Marita einer Rückenmarks-Punktion unterziehen. Dabei wird mit einer Spritze Gehirnflüssigkeit aus dem Wirbelkanal abgesaugt. Eine schmerzhafte und gefährliche Prozedur, nach der Marita tagelang im Bett liegt. Marita sträubt sich gegen den Eingriff, aber die Einwilligung in die Prozedur -so wird ihr erzählt- ist die einzige Chance, nach einem halben Jahr wieder ins Kinderheim zurück zu können.
Doch nicht nur Heimkinder wurden als “psychisch krank” stigmatisiert und in den psychiatrischen Einrichtungen Opfer medizinisch-pharmazeutischer Tests sowie sadistischer Übergriffe. So beschäftigt sich der Film mit dem Fall des heutzutage schwerkranken Jörg Weidauer, der sich als hochintelligentes Kind in der Schule langweilt und “verhaltensauffällig” wird. Der Schulleiter, der den unbequemen Schüler loswerden will, stellt die Mutter vor die Alternative: Förderschule oder Max-Planck-Institut. So kommt Jörg Weidauer im Jahr 1977 als achtjähriger Grundschüler in die damalige Kinder- und Jugendpsychiatrie des Münchner Max-Planck-Instituts für Psychiatrie, wo man ihn ein halbes Jahr lang stationär behandelt und zweieinhalb Jahre ambulant.
An Jörg werden verschiedene Neuroleptika getestet. Doch nicht nur das. “Eines Tages wurden wir durch diesen langen Gang geführt. Auf der rechten Seite war eine große Tür, durch die wir gingen, und wir mussten uns dann nacheinander ausziehen und wurden fotografiert… Woran ich mich noch sehr deutlich erinnere: Ich bekam so eine Art EEG-Kappe aufgesetzt. Da wurden auch irgendwelche Spritzen in die Kopfhaut gemacht. Und da bin ich also teilweise nachts geweckt worden. Und dann saß ich vor einem Computer und habe da Reaktionsspiele machen müssen. Das ging dann also wirklich stundenlang, bis ich also wirklich unter Schlafentzug litt. Und unter diesen Symptomen und der Erschöpfung wurden dann diese Tests weitergemacht. Welchen Sinn das gehabt hat – Keine Ahnung.”
Jörg Weidauer hat keinen Anspruch auf ein noch so geringes “Schmerzensgeld”. Von der “Stiftung Anerkennung und Hilfe” werden nur diejenigen “entschädigt”, die bis Ende 1975 Opfer von Gewalt wurden. Dabei belegt seine Geschichte, dass es auch über das Jahr 1975 hinaus Missbrauch von Kindern und Jugendlichen mit den Mitteln der Medizin gegeben hat, und das unter dem Deckmantel der Fürsorge und Hilfeleistung. Was Jörgs Fall zusätzlich bitter macht, ist die Tatsache, dass ausgerechnet seine Mutter (wenn auch wider besseres Wissen) der Einweisung in die Psychiatrie zugestimmt hat. Was sich Jörg Weidauer dennoch erhofft, ist eine Aufklärung über das, was passiert ist, und eine Entschuldigung derjenigen, die ihn physisch und psychisch so schwer verletzt haben.
Anders als Jörg Weidauer konnten diejenigen, die als Opfer anerkannt wurden, immerhin eine Entschuldigung erwarten. “Konnten” schreibe ich deshalb, weil die Frist für den Antrag zum 30.6.2021 abgelaufen ist. Menschen, die sich später gemeldet haben oder jetzt erst melden, haben nicht einmal den Anspruch auf eine Entschuldigung. So werden viele Opfer des medizinisch-pharmazeutischen Missbrauchs darüber hinaus Opfer einer kalt und hyperkorrekt agierenden Bürokratie. Ein Skandal, wie ich finde, auch in Anbetracht des riesigen Geld- und Grundbesitzvermögens der Kirchen.
Doch gab es Entschuldigungen von Seiten des Staates und der Kirche. Es ist großartig, dass Daniela Schmidt-Langels in ihrem Film den bewegenden Moment einer solchen Entschuldigung festgehalten hat. Wir Zuschauerinnen und Zuschauer werden Augenzeugen: Eine Vertreterin der Stiftung “Anerkennung und Hilfe” (links im Bild) entschuldigt sich bei Marita Kirchhof.
(Versuchskaninchen Heimkind, min. 39.40 bis 40.40)
De Film wurde am 3.2.2020 zu einer denkbar ungünstigen Sendezeit erstausgestrahlt, an einem Montag im Nachtprogramm um 23.30 Uhr. Die meisten Menschen dürften zu dieser Zeit schon geschlafen und den Film verpasst haben. Glücklicherweise ist er in der ARD-Mediathek bis Ende 2025 abrufbar und auch auf Youtube verfügbar.
Versuchskaninchen Heimkind ist schockierend gut gelungen, weil er uns nachempfinden lässt, was passiert ist – Und weil seine Bilder uns nicht mehr loslassen. Meiner Meinung nach müsste dieser Film fester Bestandteil des Geschichtsunterrichts an unseren Schulen sein.
Es ist richtig, dass Schülerinnen und Schüler nach Auschwitz fahren und die KZ-Gedenkstätte besuchen. Das Problem ist nur, dass die Exkursion zu einer Pflichtübung wird, die man abhakt. Die Jugendlichen sind zwar für den Moment betroffen, aber sie stellen keinen Bezug zur Nachkriegszeit bzw. ihrer Gegenwart her.
Der Schulunterricht gibt -gerade was die Aktualität des Nationalsozialismus betrifft- viel zu einfache Antworten. Es ist wichtig, dass die Schüler für rechtsradikale Parteien sensibilisiert werden. Doch reicht es nicht, die Jugendlichen gegen die AFD zu “immunisieren”, was ja in aller Regel gelingt. Zwar ist das Gedankengut der Nationalsozialisten in den rechtspopulistischen Parteien lebendig, aber als “Gedankengut” ist es nur die Spitze des Eisbergs, denn Brutalität, Menschenverachtung und Gleichgültigkeit wirken an anderer Stelle fort. Die von der Euthanasie faszinierten Nazi-Ärzte der Nachkriegszeit waren bestens getarnt, kaum jemand war so dumm, in die NPD einzutreten.
Zurück zu Kardinal Woelki. In seinem Vortrag sind die medizinisch-pharmazeutischen Experimente kein Thema. Auf dieses Weise verharmlost Woelki das tatsächliche Grauen. Die Deutsche Bischofskonferenz hat im Rahmen einer Pressemitteilung Kardinal Woelkis Rede vom 23.6.2016 als pdf ins Internet gestellt, so dass man sie genau studieren kann. Dieser Vortrag dient leider der Selbstreinwaschung. kann. https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2016/2016-113a-Vortrag-Kard.Woelki.pdf
In der Anrede erfahren wir, wer bei dem Vortrag zugegen war. Es waren nicht nur Projektleiterin, Kirchenvertreter und Betroffene, sondern auch hochrangige Politikerinnen und Politiker: “Meine sehr verehrten Damen und Herren aus allen Ebenen des Deutschen Caritasverbandes, sehr geehrte Frau Prof. Siebert, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung, der Ministerien und dem Parlament, sehr verehrte, liebe Damen und Herren, um die es heute geht…” (s.o.)
Vertreter der Pharmaindustrie waren offenbar nicht zugegen. Vermutlich waren sie nicht eingeladen worden. Ihr Schuldeingeständnis von Vertretern der Pharmaunternehmen hätte den feierlichen Rahmen gesprengt und die tatsächlichen Dimensionen der gegenseitigen Verstrickungen offengelegt. Auf Anfragen reagierten die Pharma-Unternehmen mit selbstgerechter, gewissenloser Gleichgültigkeit.
“Die involvierten Konzerne lehnen auf Anfrage jedoch jede Verantwortung für die damaligen Studien ab. Merck etwa verweist auf die damals andere Gesetzeslage zur Dokumentation von Medikamententests: ‘Wir können uns nicht für etwas entschuldigen, was nicht in unserer Verantwortung lag. Sollten sich Dritte nicht entsprechend Gesetzeslage verhalten haben, bedauern wir das selbstverständlich.'” s.o.: https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/medikamententests-in-deutschland-das-lange-leiden-nach-dem-kinderheim-a-1075196.html
Zwar war es bis in die 1970er Jahre rechtens, dass man an Kindern ohne deren Einwilligung bzw. die Einwilligung der gesetzlichen Vertreter medizinische Tests durchführen konnte, doch diese Untersuchungen waren ein mehrfacher Verstoß gegen das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, insbesondere gegen Paragraf 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. aber auch gegen Paragraf 2: Niemand darf einen anderen töten oder verletzen.
Und wie ist es um die Gesetzgebung bestellt, wenn sie die schutzbedürftigen Kinder nicht schützt, sondern den medizinischen Übergriffen ausliefert? Spätestens als Contergan 1962 vom Markt genommen wurde, hätte die Politik aufhorchen und das Arzneimittelgesetz ändern müssen.
An einer Aufklärung im Sinne einer umfassenden, schonungslosen Wahrheitsfindung kann die Katholische Kirche nicht interessiert sein, denn die Aufdeckungen rütteln am Firmament der großen Kirchen, die trotz alledem immer noch als moralische Instanz gelten. Einen Bezug zur Gegenwart stellt Woelki ebenfalls nicht her, auch nicht den naheliegenden zum sexuellen Missbrauch (insbesondere) in der Katholischen Kirche.
Vor diesem Hintergrund empfinde ich Woelkis vermeintlich anteilnehmenden Sätze vom 23.6.2016 als heuchlerisch und sentimental: “…Wir haben heute gehört, welches Leid schutzbefohlene junge Menschen in katholischen Einrichtungen (der Behindertenhilfe und Psychiatrie) erfahren haben. Als Bischof schmerzt mich jede einzelne dieser Erzählungen sehr. Und dabei ahne ich all die unerzählten Erfahrungen, um die nur Opfer und Täter wissen – gebe Gott, dass diese Erfahrungen nicht dem Vergessen preisgegeben sind...” War Woelki damals wirklich nur umwölkt von “Ahnungen”?
“Behindertenhilfe und Psychiatrie” habe ich bewusst in Klammern gesetzt, denn Misshandlungen von Schutzbefohlenen fanden und finden auch in anderen Räumen der Kirche statt. Und wenn einer mehr als nur eine Ahnung hat von den “unerzählten Erfahrungen, um die nur Opfer und Täter wissen”, dann ist es Erzbischof Kardinal Woelki.
Noch tritt Woelki nicht zurück. Derzeit befindet er sich im Sommerloch, denn hier in NRW haben die Sommerferien begonnen. Doch an der Basis, wo vielerorts gute Arbeit geleistet wird, regt sich Widerstand. Unlängst wurde Woelki, gegen den mittlerweile auch wegen Meineides ermittelt wird, daran gehindert, eine Messe zu halten. In Aachen fand im Rahmen der sogenannten Heiligtumsfahrt eine große Open-Air-Messe statt, die Woelki leiten sollte. Doch im Mädchenchor des Aachener Doms gab es heftige Diskussionen. Mehr als die Hälfte der 120 Sängerinnen weigerte sich, mit Woelki, der die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche weiterhin verschleppt, zusammen auf der Bühne zu stehen.
Auf Anordnung der britischen Besatzungsbehörde waren im Bottroper Elternhaus meiner Mutter, das später auch mein Elternhaus werden sollte, nach dem Krieg Soldaten einquartiert. Später zog eine dreiköpfige Familie ein, die bei einem Bombenangriff ihre Wohnung verloren hatte. Der Familienvater war ein traumatisierter Augenarzt, der schwer verletzte Soldaten hatte behandeln müssen, darunter viele “Kriegsblinde”.
Meine Mutter, die 1925 geboren wurde, war seelisch verwundet. Ihr einziger Bruder, ein Theaterwissenschaftler, war als Propaganda-Soldat unter nicht geklärten Umständen ums Leben gekommen. Meine Mutter hat den Tod ihres Bruders, der neun Jahre älter war, nie verwunden. Da man seinen Leichnam nicht fand, verlor sie nie die Hoffnung, dass er nach Hause kommen könnte. Aber wer würde ihm mitten in der Nacht die Tür aufmachen?
Meine Mutter konnte ein Leben lang nicht mehr ruhig schlafen und nahm schon in jungen Jahren Schlaftabletten – Ende der 1950er Jahre auch das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan. Beide Schwestern meiner Mutter hatten Pharmazie studiert, beide waren mit Ärzten verheiratet, so dass meine Mutter immer gut informiert war. Elisabeth, die mittlere der Schwestern, hatte als Apothekerin die Familie ernährt, solange ihr Mann, mein späterer Patenonkel, noch in der Ausbildung war. Ich weiß nicht, ob meine Tante, ein sehr gewissenhafter Mensch, meiner Mutter Contergan empfohlen hat, aber ich kann es mir gut vorstellen. Die Apothekerinnen und Apotheker waren ja selber, auch als die verheerenden “Nebenwirkungen” offenkundig wurden, vom Pharma-Unternehmen Grünenthal belogen und wider besseres Wissen zu Mittätern gemacht worden.
In der Nachkriegszeit machte die Pharmaindustrie mit der seelischen Not der Menschen große Geschäfte. Freiverkäufliche Schlaf- und Schmerzmittel fanden einen reißenden Absatz. “Das Schlafmittel Contergan war vom Pharmakonzern Grünenthal als “sicher” auf den Markt gebracht, von den Ärzten als “sicher” empfohlen und von den Apotheken als “sicher” verkauft worden. Unter den schwangeren Frauen, die es nahmen, waren viele, die den Zweiten Weltkrieg mit seinen entsetzlichen Bombennächten als Kinder oder Jugendliche miterlebt hatten und ihr weiteres Leben lang unter massiven Schlafproblemen leiden sollten. Als Contergan 1957 auf den Markt kam, unterschätzte man (und ignorierte man lange) die möglichen “Nebenwirkungen”, so dass Contergan nicht einmal rezeptpflichtig war.” https://stellwerk60.com/2020/06/11/elfchen-im-sechsten-die-apotheke-hilft/
Gerne wird verschwiegen, dass Grünenthal seinen Verkaufsschlager Contergan einem Mann mit Nazi-Vergangenheit zu “verdanken” hatte, dem deutschen Mediziner, Pharmakologen und Chemiker Heinrich Mückter (1914-1987). Mückter, der bei Grünenthal wissenschaftlicher Direktor war, hatte in der NS-Zeit menschenverachtende medizinische Experimente durchgeführt, worüber Grünenthal informiert gewesen sein dürfte, auch darüber, dass Mückter nur durch eine Flucht in die westlichen Besatzungszonen einer Verhaftung hatte entgehen können.
Erfunden wird der Contergan-Wirkstoff Thalidomid “in der Forschungsabteilung der Firma, deren Leiter Heinrich Mückter auch am Gewinn des patentgeschützten Produkts beteiligt ist. Dass ihm die polnische Justiz medizinische Experimente an KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern während der NS-Zeit vorwirft, schadet Mückters Nachkriegskarriere nicht.” https://www1.wdr.de/archiv/contergan/contergan166.html
Vielleicht war es nicht im Interesse der Bundesregierung, später noch einmal genauer nachzuforschen, denn das westliche Nachkriegs-Deutschland verdankte ausgerechnet Mückter den “freien Zugang” zum Penicillin. Ende der 1940er Jahre hatte Grünenthal als erstes deutsches Unternehmen Penicillin-Präparate auf den Markt gebracht, dank Mückter. Woher auch immer er die Penicillin-Stämme hatte, “auf legale Weise hätte er sie nicht erwerben können, denn die westlichen Besatzungsmächte hatten Forschung an und Herstellung von Penicillin durch deutsche Unternehmen strikt verboten. Mückter setzte sich über dieses Verbot hinweg und erschlich sich im Januar 1948 unter falschen Angaben bei der britischen Militärregierung die Erlaubnis, mit Penicillin zu experimentieren…Der Frage, wie Mückter damals in den Besitz von Penicillin-Stämmen gekommen war, verweigert sich die Firma bis heute.” https://www.spiegel.de/geschichte/braune-vorgeschichte-a-948837.html
(Kleiner Einschub: Denkbar ist, dass es einen Ost-West-Deal gegeben hat und die enge Zusammenarbeit zweier zwar “hochkarätiger”, aber schwer belasteter Wissenschaftler. Das ostdeutsche Pendant zu Heinrich Mückter war der fast gleichaltrige Arzt und Mikrobiologe Hans Knöll (1913-1978). Knöll, der als junger Student im Jahr 1932 Mitglied der NSDAP geworden war und der paramilitärischen NSDAP-Kampforganisation SA beitrat, hatte ab 1938 im Jenaer Glaswerk Schott & Gen. ein bakteriologisches Labor aufgebaut. Nachdem ein britisches Forscherteam 1939 den Wirkstoff Penicillin hatte isolieren können, gelang es Knöll im Jahr 1942, aus Penicillin-Stämmen das Antibiotikum zu gewinnen.
Als die Militärverwaltung der SBZ nach dem Krieg die rasche Ausweitung der Produktion befahl, hatte Knöll trotz Nazi-Vergangenheit eine tragende Rolle inne. Unter anderem waren es Knölls umfassende wissenschaftliche Kenntnisse, die der SBZ einen komfortablen Vorsprung gegenüber den westlichen Besatzungszonen sicherten. Ungeachtet seiner NS-Vorgeschichte wurde Knöll im Jahr 1950 erster Direktor des volkseigenen Pharmaunternehmens VEB JENAPHARM. https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Kn%C3%B6ll)
Der oben zitierte Spiegel-Artikel von Armin D. Steuer mit dem Titel “Der Contergan-Erfinder” bringt nicht nur wesentliche Details ans Licht, sondern erinnert auch an die zynische, modern anmutende Werbestrategie des Unternehmens Grünenthal, das es wagt, ausgerechnet mit Mozarts “Kleiner Nachtmusik” für das Schlafmittel zu werben und sich damit auch noch einen seriösen, bildungs- und kulturbeflissenen Anstrich zu geben. “In seinen besten Zeiten bescherte Contergan der CG knapp die Hälfte des Umsatzes. In Zeitungen schaltete die Firma Anzeigen mit der Partitur von Mozarts “Kleiner Nachtmusik” – Contergan sei so harmlos wie Zucker.“
“Totalitarismus” bezeichnet nicht nur die totale politische Herrschaft über unsere Köpfe, sondern auch die Okkupation unserer Körper. Im Visier der Nationalsozialisten waren die Familien, insbesondere aber Frauen und Kinder. Daher versuchten die Nazis, Mutterliebe, Schwangerschaft und Geburt unter staatliche Kontrolle zu bringen. Während sie “erbkranken Nachwuchs” zur Vernichtung freigaben, erhoben sie das Kinderkriegen zur soldatischen Pflicht der “arischen” Frau. Je mehr Kinder sie bekam, desto ranghöher war die Frau. Belohnt wurden die Mütter mit dem Mutterkreuz, das an militärische Orden, aber auch an olympische Medaillen erinnerte. Das Kreuz in Bronze gab es bei vier und fünf Kindern, das silberne bei sechs und sieben und das goldene bei mehr als acht Kindern.
Die Mutterkreuze wurden einmal im Jahr verliehen – am Muttertag. Mit der Machtergreifung im Jahr 1933 hatten die Nazis den Muttertag zum gesetzlichen Feiertag erhoben und ins Zentrum ihrer Propaganda gerückt. Meine Mutter liebte Feste, aber sie war außerstande, noch jemals den Muttertag zu feiern. Wenn wir Kinder ihr Geschenke machten, konnte sie sich nicht freuen. In Erinnerung an die Nazi-Zeit empfand meine Mutter den Muttertag, auch wenn sie den Ausdruck nie benutzte, als “Verhöhnung” der Frau. Erst vor wenigen Jahren habe ich realisiert, dass meine Mutter den Muttertag deshalb so vehement ablehnte, weil sie -anders als wir Kinder- über den grausamen Tod der Mutter meines Vaters im Jahr 1933 Bescheid wusste. https://stellwerk60.com/2021/12/13/13-12-2021-digitaler-stolperstein-zur-erinnerung-an-meine-grossmutter-steffi/
(Auch heute noch wird mit dem Muttertag Politik gemacht. Daher möchte ich noch einmal an den ersten Corona-“Lockdown” im Frühjahr 2020 erinnern. Für den autoritären, selbstherrlichen bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder war der Muttertag 2020 eine gute Gelegenheit, mit großer Geste Lockerungen zu verkünden und sich als Menschen- und Mütterfreund zu präsentieren: “Einen klaren Fahrplan der Lockerungen gibt es in Deutschland und Bayern allerdings noch nicht – kurzfristige Maßnahmen sind möglich. Und am Beispiel des kommenden Muttertags wohl auch durchaus erwünscht! Besuche sollten möglichst im Freien stattfinden, es müsse eine Maske getragen und Abstand gehalten werden, sagte Ministerpräsident Dr. Markus Söder… Ihm sei es wichtig, so der Ministerpräsident, zum bevorstehenden Muttertag wieder Besuchs-Möglichkeiten für Mütter und Großmütter zu schaffen. Das Menschliche müsse im Vordergrund stehen, und deshalb sei ihm der familiäre Bereich besonders wichtig.”) https://www.meine-anzeigenzeitung.de/lokales/freising/muttertag-2020-13755180.html
Meine Mutter, ein großzügiger, neugieriger Mensch, hatte gerne Menschen um sich. Nach dem entsetzlichen Krieg waren für sie Freundschaft und Verwandtschaft überlebensnotwendig. Sie pflegte althergebrachte Verwandtschaften und stiftete neue, indem sie ihre besten Freundinnen zu Schwestern erklärte. Da aber kein Mensch 13 oder mehr Schwestern haben konnte, nannte meine Mutter ihre Wahl-Schwestern “Kusinen”.
Eine dieser Kusinen, eine Jugend-Freundin meiner Mutter und ihrer Schwestern, hatte es nach Leipzig verschlagen: Mia. Gemeinsam mit ihren Schwestern besuchte meine Mutter sie einmal im Jahr. Ab Ende der 1970er Jahre waren auch meine Zwillingsschwester und ich dabei. Wir waren nach Köln gezogen, studierten Geisteswissenschaften und konnten uns die Zeit selber einteilen.
Für uns junge Menschen waren die Kurz-Reisen exotische Trips in ein anderes Deutschland. Für unsere Mutter und unsere Tanten jedoch waren es keine exotischen Trips, sondern immer auch Reisen in die Vergangenheit. Eine Zitterpartie war jedes Mal das Passieren der Grenze bei Herleshausen. Meine Mutter, die es immer geschafft hat, Menschen durch ein paar muntere Sprüche zum Lachen zu bringen, entlockte den Grenzsoldaten trotz vielfacher Bemühungen nicht einmal ein Lächeln. Vgl.: https://stellwerk60.com/2019/08/11/die-broiler-bruederschaft/
Meine Mutter, die ungern diskutierte, beteiligte sich auch in Leipzig nie an den Gesprächen über Politik, denn sie hatte Angst, abgehört zu werden. Tatsächlich war das Haus verwanzt, was uns Jüngere nicht davon abhalten konnte, relativ offen zu reden. Das war nur deshalb möglich, weil sich die STASI -was unserer Verwandten betraf- ausschließlich für deren Ausreise-Pläne interessierte. Irgendwann lud unser “Vetter” meine Schwester und mich zu einer Stadtrundfahrt ein. Da das Auto abhörsicher war, konnte er uns bei der Gelegenheit in seine Ausreisepläne einweihen.
Unsere jüngeren “Verwandten” waren der DDR gegenüber kritisch, fanden aber die Bundesrepublik großartig. Sie beneideten uns um die “Segnungen des Kapitalismus”, was sie auch offen zugaben. Meine Schwester und ich wussten die Segnungen allerdings kaum zu schätzen und waren “bunte Vögel” für sie. Das Vorurteil bestätigte sich, als wir bei einer Reise Anfang der 1980er Jahre Latzhosen trugen, die Uniform der Alternativbewegten. Es war natürlich bekloppt, dass wir ausgerechnet beim Besuch im Arbeiter- und Bauernstaat Latzhosen anhatten, aber wir waren jung, fühlten uns frei und dachten uns nichts dabei.
Sommer 2022. Elstern-Ästling auf einer Eiche vor der KiTa “Lummerland”, Köln, Lokomotivstraße:
Vögel sind weder fleißig noch faul. Was sie tun, das würden sie nicht “Arbeiten” nennen. Sie leben im Aus-Tausch mit der Natur, sie nehmen sich, was sie vorfinden, Beeren, Körner, Insekten, und geben zurück, was sie hervorbringen: Nachkommen. Sie kommen nicht auf die Idee, die Natur zu verändern, denn sie sind Teil der Natur. Anders als die Menschen würden sie niemals den Ast zerpicken, auf dem sie sitzen.
So wurden meine Schwester und ich nicht ganz ernst genommen, nicht nur wegen der Latzhosen. Unsere jüngeren, gut ausgebildeten “Verwandten” konnten nicht verstehen, dass wir Geisteswissenschaften studierten und nicht einen der Abschlüsse machten, mit denen man im Westen richtig viel Geld verdienen konnte. Vor allem aber hatten sie kein Verständnis dafür, dass meine Schwester und ich die BRD-Politik kritisierten. Schließlich hatten wir alle Freiheiten, vor allem die Eine: Wir konnten jederzeit zurück in den Westen. Wir mussten uns nur ins komfortable West-Auto setzen – und verschwanden hinter dem “antifaschistischen Schutzwall”.
Zurück im Westen, fühlte ich mich nach jeder unserer Reisen wie befreit, ich erfreute mich an den (damals noch) relativ intakten Straßen und gepflegten Häuserfassaden. Ich genoss es, eine Luft zu atmen, die nicht nach Braunkohle und Desinfektionsmitteln roch. Vor allem im Winter war die westliche Welt schön bunt. Ja, ich begann, den Kapitalismus zu lieben. Doch es war nur eine Freude auf den (ersten) Blick, denn bald schon fiel mir auf, dass es die (damals noch) bunten, hochglanzlackierten Autos und die Leuchtreklamen waren, die der westlichen Welt Farbe verliehen. Alles war Tünche und Schöner Schein. Unsere Reise-Erzählungen wollte niemand hören. Die Leute jubelten Wolf Biermann zu, aber kaum jemand interessierte sich für die DDR.
So hielt das Gefühl, auf der richtigen Seite der Mauer zu leben, nie lange an, denn es gab keine richtige Seite. Nach unseren Reisen spürte ich einmal mehr, wie gefährdet unsere Welt und wie fragil unsere Freiheit war. Wir, die wir im Herbst 1981 nach Bonn zur Friedensdemo fuhren, hatten etwas, das den Realpolitikern fehlte: Politische Phantasie. Wir wussten, dass die Motive für die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen weder Friedens- noch Menschenliebe waren. Und wir, die wir Ende Februar 1981 an der verbotenen (und Jahre später “freigesprochenen”) Anti-AKW-Demo in Brokdorf teilnahmen, zweifelten schon Jahre vor der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl an einer “friedlichen Nutzung der Kernenergie”.
Bis vor wenigen Jahren hatte ich nur eine Ahnung davon, wie sich das Leben in der DDR für den einzelnen Menschen angefühlt haben muss. Erst im Zusammenhang mit den autoritären staatlichen Corona-Maßnahmen begriff ich, was es heißt, entmündigt zu werden und ohnmächtig zu sein. Denn während der “Pandemie” erlebten wir Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland am eigenen Leib das respektlose, autoritäre Gebaren einer Obrigkeit, die es sich erlaubt, uns unter dem Vorwand des Gesundheitsschutzes zu bevormunden, sich in unser Leben einzumischen und immer weiter in unsere privaten Räume und in unsere Körper einzudringen.
Endlich hatte ich wieder den Geruch von Desinfektionsmitteln in der Nase:
Anfang März 2021: Ich trage eine Gesichtsmaske und schiebe einen Einkaufswagen vor mir her, dessen Griffe ein Mitarbeiter des Alnatura-Supermarkts desinfiziert hat. Zuvor musste ich mir (viel zu viel!) Desinfektionsmittel in die Hand geben (ach was, schütten!) lassen, sonst wäre ich nicht in den Laden gekommen, biologisch unbedenklich, wie der Mann sagt, zu kaufen bei Alnatura. In der Gemüse-Abteilung angele ich aus einer Kiste einen feuchten, aber knackig wirkenden Salatkopf. Vorher habe ich mehrere Salatköpfe befingert, wobei ich das Desinfektionsmittel losgeworden sein dürfte. Alle machen es so, im Alnatura und anderswo. Zum Obst muss niemand Abstand halten. Da darf angefasst werden, gegrabbelt, gedrückt und an die Nase gehalten bzw. an den staatlich verordneten “Mund-Nasen-Schutz”. Ich hole mir ein kleines Stück überteuerten, aber sehr leckeren Weichkäse. Später lege ich die Einkäufe aufs Kassenband. Die Kundin vor mir hat ihre etwa fünfjährige Tochter in den Einkaufswagen gesetzt. Das Kind muss mit einkaufen gehen, denn aktuell ist die KiTa geschlossen. Das Mädchen darf nicht im Laden herumlaufen, aber immerhin hat man ihr die Hände nicht desinfiziert. Irgendwann stellt sich das Kind aufrecht hin, beugt sich über das Kassenband und zückt grinsend den Zeigefinger. Sie hat ein lecker weiches Teil entdeckt, wie bestellt für’s Fingerchen. Die kleine Einbuchtung auf dem Coeur de Paille (s.o.) rührt daher. Nie hat mir ein Loch im Käse so gut geschmeckt.
Die Parallelen zwischen den Entmündigungen in der DDR und den Entmündigungen im Rahmen der bundesdeutschen Corona-Politik sind offenkundig, was sich während der “Pandemie”kaum jemand getraut hat, offen zu sagen. Die ehemalige Eiskunstläuferin Katarina Witt gehörte im März 2021 zu den wenigen Prominenten, die es wagten, die staatlichen Corona-Maßnahmen mit den Restriktionen in der DDR zu vergleichen:
„’Weitere Freiheitseinschränkungen, Vorgaben, wer wann, wohin, oder überhaupt reisen darf, die existierende festgeschriebene Rechtsstaatlichkeit ausgehebelt und die Unmündigkeit des Volkes, wird unter Vorgabe der Rücksichtnahme festgelegt. Die Ähnlichkeit ist verblüffend, was man im Namen ‘zum Wohle des Volkes’ so kollektiv, früher im Sozialismus und gegenwärtig im Kapitalismus, in so kleinem Kreise einfach durchsetzen kann!’, so Witt. ‘Ich mag es gar nicht aussprechen, aber ein kleines Teufelchen auf meiner Schulter flüstert mir fast schelmisch ins Ohr – ‚Willkommen zurück in der DDR‘.“ zit. nach: https://www.morgenpost.de/berlin/leute/article231876279/Katarina-Witt-Facebook-Corona-DDR-Reaktionen.html
Mittlerweile denke ich aber, dass nicht nur die DDR der BRD beigetreten ist, sondern (inoffiziell) auch die BRD der DDR. Das JA zur DDR zeigt sich im selbstgerechten Gebaren der bundesdeutschen Obrigkeit, die sich -insbesondere in Gesundheitsbelangen- zunehmend bevormundend und respektlos verhält und immer weiter in die privaten Räume der Bürgerinnen und Bürger (und in die Bürgerin und den Bürger selber) eindringt. Wir erleben eine bundesdeutsche Gesundheits-Politik, die autoritär agiert und sich die DDR-Gesundheitsfürsorge zum Vorbild nimmt.
Nun war die DDR, auch wenn die Bezeichnung “Deutsche Demokratische Republik” etwas anderes vormacht, kein demokratischer Staat. Es gab keine freien Wahlen, sondern ein Einparteiensystem. Eine knapp 1400 Kilometer lange, streng gesicherte innerdeutsche Grenze, der im Westen so genannte “Todesstreifen,” sorgte dafür, dass die Menschen das Land nicht verließen. Den Menschen, die einen Ausreiseantrag stellten, drohten schwere Sanktionen.
Manipulation und Kontrolle waren politischer Alltag. Dabei okkupierte das DDR-Regime nicht nur die Köpfe, sondern auch die Körper der Menschen. Hauptleidtragende der autoritären staatlichen Volkserziehungs-Maßnahmen und der grenzüberschreitenden Gesundheitsfürsorge waren die Kinder. Schließlich gelingt eine umfassende Leibes-Kontrolle der Menschen am besten dann, wenn sie früh anfängt. Bei Verwandtenbesuchen in Leipzig Anfang der 1980er Jahre bekam ich mit, dass Kinder, die in der Krippe betreut wurden, bereits mit zehn Monaten, kaum konnten sie sitzen, “erfolgreich” aufs Töpfchen “gingen”, was für die Erwachsenen natürlich praktisch war. Solcherart kleine “Wunder” waren in der DDR “Normalität” und Produkt einer autoritären Reinlichkeitserziehung, die wiederum Teil einer allgegenwärtigen Gesundheitsfürsorge war.
Im Deutschland-Archiv der Bundeszentrale für Politische Bildung findet sich ein interessanter Text der Psychiaterin und Psychoanalytikerin Agathe Israel, der ganz alltägliche Situationen der DDR-Kinderbetreuung in ihrer Drastik anschaulich beschreibt. Agathe Israel benennt dabei die dramatischen Folgen einer Erziehung, deren Ziel es war, bereits aus Kleinstkindern sozialistische Persönlichkeiten zu formen: “Es eröffnete sich ein Konflikt, der zwar gefühlt, jedoch kaum gedacht und schon gar nicht öffentlich diskutiert werden konnte: Die autoritär-kontrollierende Strategie, Mündigkeit, Empathie und Verantwortung von früher Kindheit anzuerziehen, behinderte die Entwicklung eben dieser Eigenschaften. Dieses Entwicklungsmilieu im „nazifreien“ Teil Deutschlands erzeugte Autoritätsgebundenheit. Sie ist ein wesentliches Kennzeichen des „totalitären Charaktertyps“.” https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/259587/fruehe-fremdbetreuung-in-der-ddr/
Gleichzeitig enthält der Artikel eine Fülle erhellender Fakten. Ich bekam viele Informationen, die neu für mich waren, etwa die, dass DDR-Gesundheitsbürokratie und Kindertagesstätten eng miteinander verzahnt waren: “Die Kinderkrippen in der DDRunterstanden dem Ministerium für Gesundheit, das über ein hierarchisch gegliedertes System mit Bezirksärzten und deren Fachreferaten die fachliche und politische Aufsicht und Kontrolle ausübte.” (ebd.)
Zwar unterstehen unsere Kitas nicht dem Bundes-Gesundheitsministerium, aber die bundesdeutschen Gesundheitsbehörden haben unter der Kanzlerschaft der Physikerin Dr. Angela Merkel (CDU), geboren in Westdeutschland, aufgewachsen in der DDR, deutlich an Macht und Einfluss gewonnen. Dass die bundesdeutsche Gesundheitsfürsorge so weit in den persönlichen Alltag vordringen darf, verdankt sich vor allem der kontinuierlichen Zusammenarbeit der Kanzlerin mit der sittenstrengen, hochdisziplinierten CDU-Politikerin Dr. med. Ursula von der Leyen.
Die Politikerin und Ärztin, geboren in Ixelles/Elsene (Brüssel), Belgien, Mutter von sieben Kindern und leidenschaftliche Dressurreiterin (Pferde), kann eine glänzende politische Vita und eine lückenlose Laufbahn (insbesondere unter Merkel) vorweisen:Sie war von 2005 bis 2009 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Kabinett Merkel I ), von 2009 bis 2013 Bundesministerin für Arbeit und Soziales (Kabinett Merkel II ) und von 2013 bis 2019 Bundesministerin für Verteidigung (Kabinett Merkel III und IV, bis 17. Juli 2019). Am 16. Juli 2019 wurde von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission gewählt. Dieses auf fünf Jahre befristete Amt hat sie seit Ende 2019 inne.
Frau von der Leyen, attraktiv, zielstrebig und durchsetzungsfähig, ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass Verordnungen, die die Entscheidungsfreiheit von Eltern einschränken und den Staat dazu ermächtigen, Kinder und ihre Familien ärztlich zu überwachen, in Deutschland vorangetriebenund durchgesetzt wurden.Von der Leyens besonderes Augenmerk galt dabei den “kostenlos” angebotenen “Kinderfrühuntersuchungen”, die im Jahr 1971 in Westdeutschland eingeführt wurden. Sinn und Zweck dieser “U-Untersuchungen” ist die mit einem peinlichen Unwort tatsächlich so genannte “Kinderfrüherkennung”. https://stellwerk60.com/2021/06/30/elfchen-im-sechsten-kinderfruherkennung/
Unter Familienministerin Ursula von der Leyen wurde die “Kinderfrüherkennung” intensiviert, verschärft und ein verbindliches Einlade- und Erinnerungswesen für Früherkennungsuntersuchungen auf den Weg gebracht. Es ist sozusagen Ursula von der Leyens familienpolitisches Vermächtnis, denn kurze Zeit später sollte sie als Ministerin ins Bundesministerin für Arbeit und Soziales wechseln. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal die Kernaussage einer Pressemitteilung des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (holpriges Kürzel für die Behörde:BMFSFJ) aus dem Jahr 2009 zitieren. Die Pressemitteilung mit dem Titel Ursula von der Leyen: “Wir haben das Niveau des Kinderschutzes in Deutschland spürbar erhöht(.)“ steht nach wie vor auf der offiziellen BMFSFJ– Internet-Seite:
Darf der Staat “zum Wohle des Kindes” in private Wohnungen eindringen, nur weil die Familien nicht zu den “empfohlenen” Untersuchungsterminen (und dadurch auch nicht zu den entsprechenden Impfterminen) erscheinen? Stellt so nicht der Staat die Eltern unter den unzulässigen Generalverdacht, ihre Kinder zu vernachlässigen oder sie zu misshandeln? Warum misstraut die Politik den Bürgerinnen und Bürgern? Meines Erachtens ist der “Hausbesuch” des Jugendamts unter den genannten Umständen ein Verstoß gegen Artikel 13 des Grundgesetzes. Zur Erinnerung: “Die Wohnung ist unverletzlich.” (Artikel 13 GG, Absatz 1)
Würde man Frau Dr. med. Ursula von der Leyen darauf hinweisen, dass das verbindliche Einlade- und Erinnerungswesen für Früherkennungsuntersuchungen möglicherweise gegen Artikel 13des Grundgesetzes verstößt, würde sie (lächelnd) auf den ergänzenden Absatz 7 hinweisen: “Eingriffe und Beschränkungen dürfen im übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher vorgenommen werden.” (Fettungen von mir)
Tatsächlich kann Artikel 13 des Grundgesetzes je nach politischem Gutdünken unterschiedlich interpretiert und leider auch missbraucht werden, nicht nurzum Schutze gefährdeter Jugendlicher. Im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen mussten unbescholtene Bürgerinnen und Bürger erleben, dass der private Raum nicht mehr unverletzlich ist – ebenso wenig wie der eigene Körper.
Meine Töchter (damals 25 und 22) und ich (damals knapp 63) mussten, nachdem die ältere im Juli 2021 an der Delta-Variante erkrankt war, nicht nur eine zweiwöchige Quarantäne erdulden, sondern auch den Hausbesuch einer Mitarbeiterin des Gesundheitsamt zulassen, die zur Bekämpfung von Seuchengefahr nach telefonischer Vorankündigung am 23.7.2021 bei uns vorbeikam. Sie übertrat zwar nicht die Tür-, wohl aber die Körperschwelle, um bei mir und meiner jüngeren Tochter den amtlich angeordneten PCR-Test vorzunehmen. Die Frau tat ihre Pflicht, das heißt, sie drang mit dem Teststab durch unsere Nasen hindurch bis an die jeweilige Rachenhinterwand vor.
“Rachenhinterwand” ist ein Bereich meines Körpers, von dem ich nicht wusste, dass ich ihn habe, aber ich hatte, sonst hätte ich mich erst recht verdächtig gemacht. Was dann kam, war sehr unangenehm, vor allem für meine Tochter, die eine Schockstarre simulierte und sich nicht bewegte. Ich weiß noch, dass ich während der Prozedur langsam, ganz langsam vor dem Teststab zurückwich, was clever war, denn die Frau traute sich nicht, “die Verfolgung aufzunehmen”, vermutlich aus Angst zu stolpern. Und was dann passiert wäre, will ich mir gar nicht ausmalen.
(Doch nicht nur die deutsche Gesundheitspolitik hat damals überreagiert. Als meine ältere Tochter im Juni 2021ihre Schwester besuchte, die für zwei Erasmus-Semester nach Durham/UK gezogen war, wurde sie -aus Deutschland anreisend- in die Kategorie “Amber”eingestuft. Das bedeutete: Online-Anmeldung, COVID-19-Test vor Einreise, 2 weitere Tests vor/am Tag 2 und am/nach Tag 8 nach Einreise, häusliche Quarantäne von 10 Tagen mit Möglichkeit einer Freitestung (immerhin “nur” per kostenpflichtigem Selbsttest) am Tag 5 nach Einreise. In der Quarantäne erlebte sie, dass ein Mitarbeiter des NHS (National Health Service) völlig überraschend vorbeikam und ihre Anwesenheit kontrollierte.)
Vergessen scheint, dass Artikel13 niemals dazu gedacht war, staatliche Übertretungen zu legitimieren. Im Gegenteil: Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland war und ist eine Replik auf die Willkürherrschaft der Nationalsozialisten. “Die Wohnung ist unverletzlich(.)” (Artikel 13) ist eine Antwort auf Totalitarismus und Terror im NS-Deutschland. “Die Wohnung ist unverletzlich(.)” ist ein klarer, ein leiser Satz, aber ein unbedingtes “Nie wieder!“. Artikel 13 erinnert an die totale Überwachung in der NS-Zeit, an die Razzien der GESTAPO, an die systematische Durchforstung und Auslöschung von Privatwohnungen und an die Deportationen. Der Satz kommt so zart daher, dass man ihn ganz leicht ignorieren kann, wegpusten. Er ist so zerbrechlich, wie der Mensch selber zerbrechlich ist.
Ursula von der Leyen war zwar von 2003 bis 2005 niedersächsischeMinisterin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, nie aber Bundesgesundheitsministerin. Doch gerade in ihrer Amtszeit als Bundes-Familienministerin (2005-2009) wurde aus einer ehrgeizigen Frau mit rascher Auffassungsgabe eine knallharte Machtpolitikerin.
Um zu verstehen, warum Frau Dr. von der Leyen als Gesundheitskontrolleurin auftritt und dermaßen unerbittlich agiert, sollte man sich ihren Lebenslauf genauer anschauen. Ursula von der Leyen, Tochter des CDU-Politikers Ernst Albrecht, Ministerpräsident von Niedersachen in den Jahren 1976 bis 1990, ist zusammen mit sechs Geschwistern in protestantisch-großbürgerlichen, fast schon feudal zu nennenden Verhältnissen aufgewachsen.
In einem anschaulich geschriebenen Cicero-Artikel aus dem Jahr 2013 gibt uns Constantin Magnis Einblicke in einen von Standesdünkel und Arroganz geprägten, streng durchgetakteten Familienalltag. Der Artikel bezieht sich auf die Zeit nach 1971, als die Familie nicht mehr in Brüssel lebte, sondern in Burgdorf-Beinhorn nahe Hannover. Der berufliche Wechsel von Familienvater Ernst Albrecht, der von 1970 bis 1990 Abgeordneter im Niedersächsischen Landtag war und in den Jahren 1971 bis 1976 einer von fünf stellvertretenden Geschäftsführern des Gebäckherstellers Bahlsen, hatte den Umzug notwendig gemacht.
Ursula ist der Liebling des Vaters. “Trotzdem“, so schreibt Magnis, “wird auch sie zu eiserner Disziplin erzogen.In der Schule wird maximaler Fleiß erwartet, ein Studium ist selbstverständlich, die Promotion erwünscht. Heidi Adele Albrecht erzählt der Bild, wie sie ihren Sohn Harald einmal zur Strafe ohne Handschuhe Brennnesseln pflücken schickt. Fernsehen, berichten Nachbarn, durften die Kinder kaum, Micky Maus lesen auch nicht. Spielkameraden erinnern sich, dass die Albrecht-Buben Kalender hatten, in die sie Termine zum Spielen notierten.… Ungewöhnlich wird bald auch das Leben im Dorf um Tundrinsheide herum. Als Schutz vor der RAF wird in Beinhorn ein eigenes Polizeirevier installiert.Zwölf Beamte und zwei Autos patrouillieren die Straßen, die Kinder werden im Streifenwagen zur Schule gefahren, der Ort wird zur Burg der Albrechts.” https://www.cicero.de/innenpolitik/portraet-von-ursula-von-der-leyen-planet-roeschen/56367 (Fettungen von mir. Ich nehme an, dass das, was Constantin Magnis schreibt, gewissenhaft recherchiert ist und der Wahrheit entspricht. Eigentlich ist das, was ich lese, so un-heimelich, dass ich es kaum glauben kann.)
Ursula Albrecht wächst auf als Kind einer Vorzeige-Familie. Mit ihrem Umzug nach Deutschland werden sie und ihre Geschwister Teil einer medialen Inszenierung. Hauptdarsteller ist der vor der Kamera stets strahlende Ernst Albrecht, der sich gerne als Familien- und später auch als Landesvater inszeniert. Albrecht, ab dem Jahr 1976 Ministerpräsident von Niedersachsen, ist der smarte, sportliche Typ. Einmal posiert er zusammen mit zwei Söhnen für den “Kicker“- im Fußballtrikot. https://www.spiegel.de/politik/ernst-albrecht-a-a114c50b-0002-0001-0000-000014327668 Nach Vorbild prominenter US-amerikanischer Politiker-Clans schmückt sich Albrecht mit der großen Familie, die, siehe wikipedia, schillernde Vorfahren vorweisen kann. Tochter Ursula knüpft später da an, durch die Heirat mit dem Mediziner Heiko von der Leyen im Jahr 1986 beschert sie der Familie den noch fehlenden Adelstitel – und wird als Politikerin noch erfolgreicher als ihr Vater.
Doch ist eine Familie unter diesen Bedingungen noch ein warmer, heimeliger Ort, ein Schutzraum? Robert Habeck, den ich einmal geschätzt habe, sagte im Jahr 2018 in einem Interview mit dem dänischen Magazin GRÆNSEN: “Ich habe mal gelesen: Heimat ist da, wo man doof sein kann. Das klingt komisch, aber ich finde es genau richtig: Mit Menschen zusammen zu sein, wo man nicht erklären muss, wer man ist.“ https://www.nordschleswiger.dk/de/deutschland-suedschleswig/ich-bin-nicht-nur-da-zuhause-wo-meine-muttersprache-gesprochen-wird. Man kann es auch einfacher sagen: Heimat ist da, wo man so doof sein kann, wie man ist.
Die Albrecht-Kinder dürfen nie einfach nur doof sein, sondern müssen fleißig sein, zielstrebig und gehorsam. Schließlich schaut man auf sie. Sie dürfen sich nicht frei bewegen und werden von der Polizei zur Schule kutschiert. Die ersten Male mag das ja noch aufregend sein, aber dann? Wer will mit 15 noch zur Schule gebracht werden? Wie können Eltern bewaffneten Polizisten, die ständig um ihr eigenes Leben fürchten müssen, ihre Kinder anvertrauen? Personenschutz für Kinder, das hätte Ernst Albrecht bewusst sein müssen, erregt erst recht Aufmerksamkeit. Die bewachte Fahrt zur Schule gefährdet nicht nur Mitschülerinnen und Mitschüler, sondern macht die Sicherheitskräfte selber zur Zielscheibe – und das auf Kosten der Allgemeinheit..
Ernst Albrecht muss tatsächlich große Angst vor der RAF gehabt haben. Nicht ohne Grund, denn Albrecht war nicht zimperlich, was die Terrorabwehr betraf. So waren er und die damalige CDU-Landesregierung in einen -wie sich später herausstellen sollte- vom Verfassungsschutz fingierten Anschlag eingeweiht. “Als Celler Loch wurde die Aktion Feuerzauber[1] des niedersächsischen Verfassungsschutzes bekannt, bei der am 25. Juli 1978 ein Loch mit rund 40 Zentimeter Durchmesser in die Außenmauer der Justizvollzugsanstalt Celle gesprengt wurde. Damit wurde ein Anschlag zur Befreiung von Sigurd Debus vorgetäuscht, der als mutmaßlicher Terrorist der Rote Armee Fraktion (RAF) im Celler Hochsicherheitsgefängnis einsaß.”https://de.wikipedia.org/wiki/Celler_Loch
Ernst Albrecht hätte, um seine Kinder tatsächlich zu schützen und ihnen ein halbwegs normales Leben zu ermöglichen, vom Amt des Ministerpräsidenten zurücktreten müssen, spätestens im Jahr 1986, als der Journalist Ulrich Neufert die wahren Hintergründe der “Aktion Feuerzauber” aufgedeckt hat.
Doch Albrecht bleibt hart. Würde er seine Mit-Schuld eingestehen, würden auch die eigenen Kinder den Respekt vor ihm verlieren. So aber spielen die Kinder mit. Es ist ihnen nicht zu verdenken, dass sie den Prominenten-Status genießen, denn der ist mit allerlei Annehmlichkeiten verknüpft. Die Albrecht-Kinder beißen in den sauren Apfel und machen sich vor, dass er süß schmeckt.
Fotos der jungen Ursula Albrecht zeigen ein hübsches, selbstbewusstes Mädchen, das es liebt, vor der Kamera zu posieren und gesehen zu werden. Ursula vergöttert den Vater. “‘Röschen’ hockt nachmittags auf der Haustreppe und wartet, bis ihr Vater nach Hause kommt.” Wissend, dass sie (schmunzelnde) Zuschauer hat, interessiert sich Ursula Albrecht für alles, was den Vater interessiert, sogar für Landespolitik. “Während die Brüder bei Besprechungen rausgeschickt werden, erleben Besucher, wie Ursula unterm Schreibtisch ihres Vaters sitzen bleiben darf.” (cicero.de/ s.o.)
In Erziehungsfragen ist Albrechts Ehefrau Heidi Adele seine Verbündete. Vermutlich heißt er es gut, dass sie Sohn Harald ohne Handschuhe Brennnesseln pflücken lässt. Als sozial engagierte “Landesmutter” hat Heidi Adele Albrecht eine gute Presse. Da wird man schnell leutselig und plappert aus, was man am besten für sich behält. Dass sie ausgerechnet der BILD-Zeitung von ihrer demütigenden Erziehungsmaßnahme erzählt, vermutlich sogar als kleine Anekdote, wundert mich allerdings sehr. Ich gebe “ohne Handschuhe Brennnesseln pflücken Strafe” in die Suchmaschine ein und werde von einem Ergebnis überrascht, das mich nachdenklich stimmt.
Im Rahmen der Online-Ausstellung “Verfolgung von Jugendlichen im Nationalsozialismus”, die die Lebensläufe von Jugendlichen aus ganz Europa aufzeichnet, “die in der Zeit von 1933 bis 1945 von den Nationalsozialisten aus »rassischen«, politischen, religiösen und anderen Gründen verfolgt und teilweise sogar ermordet wurden…”, wird auch die Geschichte der 1925 in Łódź /Polen geborenen Widerstandskämpferin und Auschwitz-Überlebenden Batsheva Dagan erzählt. Die Jüdin Batsheva Dagan wurde im Jahr 1943 ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie Zwangsarbeit verrichten musste, unter anderem im “Brennnessel-Kommando”.
“Bei ihrer ersten Arbeit im »Brennnessel-Kommando« musste Batsheva mit bloßen Händen, ohne Handschuhe, Brennnesseln pflücken, aus denen »Kaffee« für die Häftlinge gekocht wurde. Bei dieser schmerzhaften Arbeit wurden die Zwangsarbeiterinnen von einer jungen Aufseherin bewacht: Irma Grese. Diese hatte einen abgerichteten Hund, den sie auf die Häftlinge hetzte, wenn sie ihrer Meinung nach zu langsam arbeiteten. Auch schlug sie die Frauen zur Strafe ins Gesicht.” https://www.verfolgung-von-jugendlichen-im-ns.de/index.php/biographies/batsheva-dagan
Ausdrücklich möchte ich an dieser Stelle betonen, dass die promovierte Germanistin Heidi Adele Albrecht gewiss niemals mit den Nazis sympathisiert hat. Die Taten der KZ-Aufseherin Irma Grese lassen sich nur entfernt mit der Erziehungsmaßnahme von Frau Albrecht vergleichen. Während Irma Grese die jungen Zwangsarbeiterinnen systematisch und tagtäglich quälte, war die Bestrafung des Albrecht-Sohns eine Einzelaktion. Dennoch verurteile ich diese Aktion, bei der Sohn Harald nicht nur zu Gehorsam erzogen und bestraft, sondern vermutlich auch abgehärtet werden sollte. In keinem Fall hätte Heidi Adele Albrecht die Erziehungsmaßnahme öffentlich machen dürfen, denn als “Landesmutter” war sie eine einflussreiche Person und für viele Eltern ein Vorbild.
Der autoritäre Umgangston innerhalb der Familie und das permanente Streben nach öffentlicher Anteilnahme und Anerkennung war gewiss auch eine Reaktion auf einen schweren familiären Schicksalsschlag. Nur wenige Jahre zuvor war die heile Welt für eine Weile zusammengebrochen, als Ursula Albrecht im Alter von 13 Jahren ihre jüngere Schwester Benita-Eva verlor. Diese traumatische Erfahrung ist gewiss eine Ursache für die harte Gesundheitspolitik, die Ursula von der Leyen nach Verabschiedung aus der Bundespolitik als Vorsitzende der EU-Kommission weiter vorantreibt.
Moralisch bedenklich ist allerdings, auf welche Weise Ursula von der Leyen ihre persönliche Lebensgeschichte heranzieht, um als Vorsitzende der EU-Kommission dem Krebs in Europa den Kampf anzusagen. “Mit dem Hinweis auf ihre eigene Familiengeschichte hat die neue EU-Kommissionschefin dem Krebs in Europa den Kampf angesagt. ‘Als ich als Mädchen in Brüssel lebte, starb meine kleine Schwester im Alter von elf Jahren an Krebs’ sagte die 61-Jährige. ‘Ich erinnere mich an die enorme Hilflosigkeit meiner Eltern, aber auch der medizinischen Betreuer, die sich so liebevoll um sie kümmerten.‘ ” https://www.aerzteblatt.de/archiv/211174/EU-Kommission-Von-der-Leyen-sagt-Krebs-den-Kampf-an
Es sind rührselige Worte, mit denen sich von der Leyen erinnert: “Als ich als Mädchen in Brüssel lebte.”… Gerade die Älteren von uns denken bei der Formulierung an den Titel des berührenden autobiografischen Kinderbuchs von Erich Kästner, das 1957 veröffentlicht wurde und vermutlich bei den Albrechts im Bücherschrank stand: Als ich ein kleiner Junger war … Als ich ein kleines Mädchen war…
Bereits 15 Jahre zuvor hatte die damalige Bundes-Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) in einer Sendung des öffentlichen-rechtlichen Rundfunks vom Tod der Schwester erzählt, aber nur vor deutschem Publikum, und zwar in der Talkshow „Beckmann“ (4.6.2006, 22.45 Uhr). Auf bz-berlin.de wird am 4.6. für die abendliche Sendung geworben und Ursula von der Leyen zitiert: “Immer noch habe sie das Bild ihrer Schwester im Kopf, wie sie im Bett lag. ‘Sie wurde immer schwächer. Zum Schluß war sie auch gelähmt.’ Dann kam der Tod. ‘Wir waren an ihrem Sterbebett versammelt. Es gab dann auch das alte Ritual der Totenwache.'” https://www.bz-berlin.de/archiv-artikel/ursula-von-der-leyen-so-qualvoll-starb-meine-schwester-an-krebs
Ich persönlich bin der Auffassung, dass Kinder und Jugendliche am Sterbe- oder Totenbett eines Geschwisterkindes “nichts zu suchen” haben. Die Totenwache, die den Beteiligten Tapferkeit und Disziplin abverlangt, macht aus sehr jungen Menschen schlagartig Erwachsene, die sie nicht sind. Meines Erachtens dürften nur die Eltern ihr sterbendes Kind begleiten. Ursula Albrecht war, als ihre Schwester starb, knapp 13 Jahre alt, in einem Alter, in dem Menschen allmählich begreifen, dass sie sterblich sind.
Der wohl größten Trost, den das Leben parat hält, ist die Liebe. Wenn wir verliebt sind, fühlen wir uns unsterblich. Mit knapp 13 sind viele Menschen -wenn auch nur aus der Ferne- zum ersten Mal “unsterblich” verliebt. In diesem Alter eine Schwester zu verlieren, stelle ich mir entsetzlich vor. Man darf von einem jungen Mädchen nicht erwarten, dass es der toten Schwester “einen letzten Dienst” erweist. Die Totenwache dürfte das junge Mädchen nicht getröstet, sondern Todesangst hervorgerufen und/oder verfestigt haben. Die Eltern Albrecht hätten Ursula -so meine persönliche Meinung- vom “Ritual der Totenwache” ausschließen müssen.
Der Tod eines Kindes ist so furchtbar, dass er das Leben der betroffenen Familie(n) vollkommen auf den Kopf stellt. Ich selber habe miterlebt, wie Anfang der 1960er Jahre meine damals zweijährige Großkusine Susanne binnen kürzester Zeit an Leukämie starb, was insbesondere für Susannes Schwester, aber auch für mich und meine Geschwister entsetzlich war. Wir hatten Angst, selber zu erkranken. Gleichzeitig waren wir eifersüchtig auf unsere Kusine, die in der Nachbarstadt lebte, denn unsere Mutter fuhr jeden Tag zu ihr. Für unsere Mutter gab es in diesen traurigen Wochen nur ein Kind: Susanne.
Leukämie war Anfang der 1960er Jahre noch nicht behandelbar. Susannes Vater, selber Arzt, hat damals lebensverlängernde Maßnahmen wie Bluttransfusionen abgelehnt, um seiner Tochter weiteres Leid zu ersparen. Obwohl er der Krankheit gegenüber machtlos war, hat ihn wohl niemand (auch kein Erwachsenener) als “hilflos” empfunden- so wie Ursula Albrecht ihren “Übervater” Ernst Albrecht.
Vermutlich hat Ursula Albrecht ihren Vater bis zum Zeitpunkt des Todes ihrer Schwester für allmächtig gehalten. Jetzt bekommt das Bild einen Kratzer.
Ich halte die Generalmobilmachung gegen Krankheiten, und sei es gegen die von uns allen gefürchtete Krankheit Krebs, für gefährlich. Es führt schnell dazu, dass die Gesundheits-Politik allzu schwere Geschütze auffährt.
Ich bin erleichtert, dass ich wenigstens eines der anvisierten Organe, die Prostata, nicht besitze. Dennoch bin ich alarmiert. Der “Sound” dieser Verlautbarung erinnert mich doch sehr an das “verbindliche Einlade- und Erinnerungswesen für Früherkennungsuntersuchungen“, Ursula von der Leyens familienpolitisches Vermächtnis aus dem Jahr 2009 (s.o.). Gewiss wird das Gesundheitsamt bei mir zuhause “nach dem rechten” schauen, wenn ich nicht zu den Untersuchungsterminen erscheine.
Frau Dr. med. Ursula von der Leyen empfehle ich, einmal Tempo und Verve zu drosseln und gründlich zu recherchieren. Denn es hat vor mehr als zwanzig Jahren eine großangelegte Studie gegeben, bei der im Rahmen der Früherkennung des Neuroblastoms nicht nur in Deutschland Millionen Kleinstkinder per Urin-Windeltest untersucht wurden. Die Folgen waren für einige der Kinder katastrophal. Da aber niemand von einer Katastrophe und nicht einmal einem medizinischen Skandal redet, werde ich es demnächst an dieser Stelle nachholen…
Natürlich ist die Krebsfrüherkennung, wenn sie nicht überspannt wird, vernünftig. Auch Impfungen sind sinnvoll, solange maßvoll geimpft wird und man den Menschen, der ja über große Selbstheilungskräfte verfügt bzw. sie als Heranwachsende/r erst noch ausbilden muss, nicht entmündigt. Denn Impfungen sind (auch) eine wirksame Möglichkeit, den Menschen körperlich und seelisch zu manipulieren. In der DDR war die Impfung der Massen (und insbesondere der Heranwachsenden) ein zentrales Mittel der Machtausübung. Unter der Losung “Der Sozialismus ist die beste Prophylaxe” setzte die DDR seit den 1950er Jahren “eine gesetzliche Impfpflicht durch, die immer umfassender wurde: gegen Pocken, Kinderlähmung, Diphterie, Tetanus, Keuchhusten, Tuberkulose und ab den 1970er-Jahren auch gegen die Masern. Empfohlen wurde, wie auch heutzutage, eine Grippe-Impfung. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr bekamen Heranwachsende insgesamt 20 Schutzimpfungen – staatlich verordnet.” https://www.mdr.de/geschichte/ddr/politik-gesellschaft/gesundheit/impfen-impfpflicht-polio-epidemie-kinderlaehmung-100.html
Seit dem 1. März 2020 gilt in Deutschland das “Masernschutzgesetz”. Wie früher einmal in der DDR, wo die Masern-Impfpflicht Anfang der 1970er Jahre eingeführt wurde, ist sie jetzt in ganz Deutschland Pflicht. Das bedeutet, dass die Eltern aller Kinder, die über ein Jahr alt sind und eine Gemeinschaftseinrichtung wie KiTa, Kinder-Tagesgruppe oder Schule besuchen oder besuchen wollen, nachweisen müssen, dass die Kinder gegen Masern geimpft sind. Indirekt jedoch verpflichtet diese Impfung auch zur Mumps- und Rötelnimpfung, denn der Masern-Impfstoff ist in Deutschland nur in Kombination mit dem gegen Mumps und Röteln erhältlich.
Wie zu befürchten und nicht anders zu erwarten war, wurden alle Verfassungsbeschwerden gegen die Masern-Impfpflicht zurückgewiesen. Auf der Internetseite der Verbraucherzentrale sind die wesentlichen Inhalte einer Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. August 2022 gut zusammengefasst:
“Das Bundesverfassungsgericht hat Verfassungsbeschwerden gegen die Masern-Impfpflicht für Kinder zurückgewiesen und sie für verfassungsgemäß erklärt. Demnach stellt die Impfpflicht zwar einen Eingriff in das Elternrecht und das Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit dar.Diese Grundrechtseingriffe seien aber zumutbar und verhältnismäßig, um besonders gefährdete Menschen vor einer Infektion zu schützen. “Angesichts der sehr hohen Ansteckungsgefahr bei Masern und den … verbundenen Risiken eines schweren Verlaufs besteht eine beträchtliche Gefährdung … Dritter”, heißt es in der Urteilsbegründung.” https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/gesundheit-pflege/aerzte-und-kliniken/alles-zur-masernimpfpflicht-das-muessen-sie-jetzt-wissen-76370
Die Masern sind eine nicht zu unterschätzende Kinderkrankheit. Ich habe meine beiden Töchter (Jahrgang 1999 und 1995) auch deshalb gegen Masern impfen lassen, weil ich einen jungen Mann kannte, dessen Hörvermögen nach einer Masern-Erkrankung im frühen Kindesalter eingeschränkt ist. Leider wurden die beiden bei der Gelegenheit -weil es so üblich war- per Mehrfachimpfstoff (MMR) auch gegen Röteln und Mumps geimpft. Ich war vertrauensvoll und naiv. Mehrfachimpfungen sind lukrativ.
Eine allgemeine Impflicht, wie es sie seit 2020 gibt, ist unverhältnismäßig. Selbst das Bundesverfassungsgericht räumt ein, dass die Impfpflicht einen “Eingriff in das Elternrecht und das Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit” darstellt. Doch ist nicht der Impfakt selber unter Umständen ein Angriff auf die körperliche (und seelische!) Unversehrtheit des Kindes?
Kurz vor der “Pandemie” begegnete ich einem Nippeser Bekannten. Er war in großer Sorge um seine Tochter, die im Sommer 2020 eingeschult werden sollte. Das Mädchen, so erzählte er mir, habe eine so schwere Allergie, dass im Falle einer Masern-Impfung mit einem allergischen Schock zu rechnen sei. Man habe ihm gesagt, dass man das Mädchen dennoch impfen müsse. Aber die Familie könne beruhigt sein. Das Mädchen werde im Krankenhaus geimpft, da stünden im Notfall die Experten bereit. Außerdem könne das Kind im Krankenhaus nach der Impfung weiter beobachtet werden.
Was er mir erzählte, war so entsetzlich, dass ich es kaum glauben mochte. Ein allergischer Schock verletzt den Menschen nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Wie kann man unter dem Vorwand, ein Kind schützen zu wollen, in Kauf nehmen, dass es möglicherweise großes Leid erfährt? Unter diesen Umständen wird dem Kind physisch und psychisch Gewalt angetan. Und wenn es schon eine Impfpflicht gibt, wäre dann nicht die Herdenimmunität dazu da, Kindern wie der Tochter meines Bekannten die Impfung zu ersparen und sie vor den unzumutbaren Begleitumständen der “Schutzimpfung” zu schützen?
Später habe ich im Internet einen Text mit den immer noch gültigen Empfehlungen des RKI gefunden, der bestätigt, was mein Bekannte mir erzählt hat. “Ausschließlich Kinder mit klinisch sehr schwerer Hühnereiweißallergie (z.B. anaphylaktischer Schock nach Genuss von geringsten Mengen von Hühnereiweiß) sollten unter besonderen Schutzmaßnahmen und anschließender Beobachtung (ggf. im Krankenhaus) geimpft werden.”https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/MMR/FAQ10.html
Leben wir noch in einer Demokratie? Die Empfehlungen des RKI sind, wie ich finde, nicht nur undemokratisch, sondern menschenverachtend.
Ich denke, es ist (aus vielerlei Gründen) höchste Zeit für eine Aufhebung der Masern-Impfpflicht. Ein Gerichtsurteil aus dem Sommer 2022, das ermöglicht, dass ein dreijähriges Kind nach Impfung mit einem Einfach-Impfstoff, der in der Schweiz besorgt wurde, in den Kindergarten gehen darf, ist ein Armutszeugnis für die deutsche Gesundheitspolitik, aber dennoch ein kleines Hoffnungszeichen. https://individuelle-impfentscheidung.de/aktuelles/detail/eilantrag-einzelimpfstoff-aus-der-schweiz.html Aber es sollte (und wird hoffentlich) andere Wege geben als den Rechtsweg.
Die autoritäre Kinderbetreuung in den DDR-Kinderkrippen und Kindertagesstätten (inklusive Pflicht-Impfungen und regelmäßiger Gesundheitskontrolle) fand in der Schule ihre Fortsetzung. Wollten die Kinder nicht von den Freizeit- und Gruppenaktivitäten ausgeschlossen werden (und welches Kind will das schon?), mussten sie sich den Jungpionieren anschließen. Die Organisation “Die Jungpioniere”, der fast alle Schülerinnen und Schüler vom 1. bis zum 3. Schuljahr angehörten, war Teil der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“.
Ein sprachliches Zeugnis für die Erziehung zur Unmündigkeit sind Die Gebote der Jungpioniere, die dem Schulkind vorschreiben, wie es zu sein hat: Es soll sich anpassen und funktionieren. Was vom Kind erwartet wird, ist absoluter Gehorsam und eine Einordnung in das sozialistische Kollektiv. Belohnt wird das Kind mit einem Ausweis, einer Uniform, einem Halstuch und dem Gefühl, einer Kindergruppe anzugehören. Die Jungpioniere, das sind WIR.
Ich versuche, mich in eine ehemalige Jungpionierin hineinzuversetzen und aus ihrer Perspektive ein Elfchen zu schreiben. Die Frau ist längst erwachsen, aber im Herzen immer noch Jungpionierin. Wir alle kennen sie. Nach der Wende hat sie im Westen Karriere gemacht. Zugute gekommen sind ihr Intelligenz, Ehrgeiz und ein typisch deutscher, leicht verklemmter Humor. Sie besitzt Eigenschaften, die man auch “deutsche Tugenden” nennt: Fleiß, Ordnungsliebe, Sauberkeit, Disziplin.
Diese Frau erfüllt immer und unter allen Umständen ihre Pflicht. Was die Frau auszeichnet, das ist eine gewisse Bescheidenheit. Bei der Corona-Impfung hat sie nicht Erste sein wollen. Sie hat sich nicht in den Vordergrund gedrängt, sondern in die Reihe gestellt und gewartet, bis sie an der Reihe war.
Ich entnehme den “Gebote(n) der Jungpioniere” die sechs einschlägigen Adjektive und Adverbien und wähle die Ich-Perspektive.
Das kleine Elfchen entsteht ganz von allein…
Ich
war Pionierin,
tüchtig und fleißig!
Ordentlich, sauber, diszipliniert und
gesund!
Ich drucke das Elfchen aus und lese es noch einmal. Es ist stimmig, es passt zu der Frau. Nachts träume ich von ihr, wieder einmal. Vgl.: https://stellwerk60.com/2021/01/27/elfchen-im-ersten-wir-geben-euch-staatssicherheit-ein-gedicht-von-angela-merkel-das-sie-mir-vortrug-wahrend-ich-traumte/ Sie steht freudestrahlend vor mir und liest mir den kleinen Text vor, zweimal, dreimal, sie fühlt sich wahrgenommen, verstanden. Ihre Darbietung ist fehlerlos, der Vortrag wird lediglich von winzigen Glucksern unterbrochen. Diese Frau, die mir jetzt auch noch zuzwinkert, ist in der DDR aufgewachsen und war FDJ-Aktivistin: Angela Merkel!
Als Kind war Angela Merkel Pionierin in der Organisation Ernst Thälmann. Sie wollte immer die Erste sein und war es oft, doch wahrhafte Pionierin war sie erst nach der Wende, sie war vielfache Erste, sie war “als Frau die erste Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Sie war im Amt des Bundeskanzlers die erste Person aus Ostdeutschland und die erste nach der Gründung der Bundesrepublik geborene Person.”https://de.wikipedia.org/wiki/Angela_Merkel
Offenbar hat Angela Merkel nicht nur den autoritären Jargon der DDR-Obrigkeit verinnerlicht, sondern auch deren Geisteshaltung. Das ist verwunderlich, denn ist Frau Merkel nicht DDR-kritisch, war für Frau Merkel die DDR nicht ein Unrechtsstaat? Ich schaue im Internet nach und finde ein spiegel– Video vom 23.9.2010. Wir sehen Angela Merkel, die anlässlich der Feiern zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit das neue Buch von Lothar de Maizière vorstellt: “Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen. Meine Geschichte der deutschen Einheit.”
De Maizière (CDU) war im Jahr 1990 als erster demokratisch gewählter Ministerpräsident zugleich der letzte Ministerpräsident der DDR. Angela Merkel war zu dieser Zeit (zunächst stellvertretende) DDR-Regierungssprecherin – und Lothar de Maizière ihr Vorgesetzter. Die große CDU-Karriere sollte jedoch nicht Lothar de Maizière machen, sondern Angela Merkel.
Im Zusammenhang mit der Buch-Vorstellung hält Angela Merkel eine Rede und stellt klar, dass “trotz des bescheidenen Glücks, das es vor der Wende gegeben habe” (spiegel), die DDR aus ihrer Sicht ein Unrechtsstaat war: Die DDR “hat einen perfiden Druck auf alle ausgeübt, die in diesem Lande lebten.” (Video, 0.26-0.36) Indem sie die DDR als “Unrechtsstaat” abstempelt, rechtfertigt Angela Merkel die Wiedervereinigung, so wie sie vonstatten ging: nach den Vorgaben des “Rechtsstaats” Bundesrepublik Deutschland.
Angela Merkels Begründung ist meines Erachtens geschichtsverfälschend, denn “einen perfiden Druck” hat das DDR-Regime nicht auf alle, “die in diesem Lande lebten“, gleichermaßen ausgeübt. Die Brutalität der Obrigkeit bekamen vor allem die Menschen zu spüren, die den Mut hatten, Widerstand zu leisten. Diesen Mut hatte Angela Merkel nicht. Wozu auch? Angela Merkel dürfte ihr bescheidenes Glück genossen haben.
Auf diese Weise stilisiert sich Angela Merkel zum Opfer eines autoritären Regimes, das sie so nie war. Dabei hatte sie kein Problem damit, sich anzupassen, denn ganz im Sinne des DDR-Regimes war sie fleißig, tüchtig und arbeitsam. In der Person der Pastorentochter Angela Merkel verquickt sich die sozialistische mit der protestantischen Arbeitsethik. Weil ich beim Lesen laut lachen musste, möchte ich den Wikipedia-Beitrag zu “Arbeitsethik” empfehlen. Zur protestantischen Arbeitsethik heißt es da: “Die protestantische Arbeitsethik ist gekennzeichnet durch die Vorstellung von Arbeit als Pflicht, die man nicht in Frage stellen darf. Die Arbeit bildet den Mittelpunkt des Lebens, um den herum Freizeit gestaltet wird. Diametral zur vorreformatorischen Auffassung erklärte der reformierte GeistlicheJohann Kaspar Lavater im 18. Jahrhundert, „[selbst im Himmel] können wir ohne eine Beschäftigung nicht gesegnet sein“ (Aussichten in die Ewigkeit, 1773).”https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitsethik
Kaum etwas konnte die DDR-Obrigkeit so sehr erzürnen wie Menschen, die nicht werktätig waren oder ihre Arbeit nicht in den Dienst des Staates stellten. Als verwerflich galt daher die “Arbeitsscheu”. Auf “Arbeitsverweigerung”, aber auch auf Ausübung der Prostitution reagierte der Staat in Berufung auf § 249 des Strafgesetzbuch(es) der DDR mit äußerster Härte. “Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung dadurch gefährdet, daß er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, oder wer der Prostitution nachgeht […] wird mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeitserziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.”https://www.mdr.de/geschichte/ddr/politik-gesellschaft/asozialenparagraph-arbeitslos-opposition-arbeitslager-zwangsadoption-100.html
Bei soviel Angst vor Arbeitsverweigerern wundert es nicht, dass Astrid Lindgrens Kinderbuch “Pippi Langstrumpf” in der DDR zwar gelesen, aber bis 1975 nicht gedruckt werden durfte. Der DDR-Staatsführung galt es als zu anarchistisch. “Als es endlich eine Druckgenehmigung für das Buch gab, kam es nur mit vielen Auslassungen und in geringer Stückzahl auf den Markt.” https://www.deutschlandfunkkultur.de/verbotene-lektuere-100.html Pippi Langstrumpf ist gefährlich, weil sie als Minderjährige alleine lebt, weil sie keine Steuern zahlt und keinen Krankenkassenbeitrag und weil sie sich weigert, zur Schule zu gehen. Pippi -das ahnte die ostdeutsche Obrigkeit- würde niemals einem Verein beitreten, schon gar nicht den Jungpionieren. Doch was Pippi besonders gefährlich macht, ist ihr Selbstbewusstsein. Sie führt Respektspersonen (die freundliche Lehrerin, wohlmeinende Fürsorgerinnen, Polizisten) an der Nase herum – und lacht!
Pippi Langstrumpf ist im besten Sinne anti-autoritär. Die weibliche Gegenfigur zu Pippi ist die real existierende, fleißige und tüchtige Angela Merkel. Frau Merkel fehlt es an politischer Leidenschaft. Daher kann sie sich nicht in Menschen hineinversetzen, die aus tiefer Überzeugung allen Risiken zum Trotz Widerstand leisten (müssen!). In ihrer Rede anlässlich der Feiern zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit (s.o.) verliert sie (anders als an anderer Stelle) kein Wort über den politischen Widerstand in der DDR, über Kriegsdienstverweigerer, über Andersdenkende, kein Wort über die Bürgerrechtsbewegung, die Friedensgebete und die Montagsdemonstrationen.
Aber de Maizière verliert ein paar Worte über Angela Merkel und stellt ihr eine Art Zeugnis aus: “Ich habe Angela Merkel nicht erfunden, sondern sie war da und war in meiner Mannschaft und war eine tüchtige Regierungssprecherin. Und sie ist in allen weiteren Verwendungen ebenfalls tüchtig gewesen.“(Video, 1.42-1.52)
Auch in ihrer Verwendung als Bundeskanzlerin ist Angela Merkel durchaus tüchtig gewesen…
Das Foto, das ich mir angucke, zeigt einen nackten kleinen Jungen, der etwa ein halbes Jahr alt ist. In Ermangelung eines Eisbärenfells hat man das Kind auf ein feines Kissen gelegt. Der Junge liegt auf dem Bauch und hebt den Kopf, was ihm noch ein bisschen schwer fällt. Das Kind ist mein späterer Mann Manfred. Es gibt nicht viele Fotos von ihm, aber diese wenigen erzählen viel.
!!!Achtung, der Junge auf dem Foto unten ist nicht “Manfred”. Ich habe mir Bild und Baby nur “ausgeliehen”, d.h. aus dem Internet abfotografiert. Das Foto ist knapp 50 Jahre älter, stammt aus dem Jahr 1909 und zeigt den Vater einer Fotografin namens Monika Paar. Der wache, knuffige Junge, der meinem Mann ähnlich sieht, war damals schon im Krabbelalter und konnte -anders als der kleine Manfred- wegkrabbeln, was er im nächsten Moment wohl auch gemacht hat. https://www.fotocommunity.de/photo/schon-1909-monika-paar/2190985 Sobald ich “mein” Foto gefunden habe, werde ich es gegen dieses Bild austauschen!!!
Es war einmal: Das Glück, nackt auf dem Bauch zu liegen und nicht damit rechnen zu müssen, verletzt zu werden.
Winter 1957/58: Mein späterer Mann, ein zweitgeborener Sohn, hat seiner Mutter eine gute Geburt beschert. Sie hat ihn einige Wochen lang gestillt und findet es selbstverständlich, dass er kräftig und robust ist. Schließlich ist er ihr Sohn.
Seine Eltern sollten ihm -wie auch den anderen beiden Söhnen- nie Angst machen oder mit Strafe drohen. Eine glückliche Kindheit: So, wie man ist, angenommen werden. Geliebt werden, weil man da ist, nicht zurechtgebogen, nicht belogen, nicht für blöd verkauft werden. Manfred ist schon als Dreijähriger alleine nach draußen gegangen, um mit anderen Kindern zu spielen. Das war damals noch möglich, denn der Autoverkehr hielt sich in Grenzen und das Teilstück der A1 bei Bachem sollte erst gebaut werden, als die Familie nach Frechen-City gezogen war. Manfred wollte nicht in den Kindergarten, obwohl seine Eltern es ihm angeboten hatten. Unter den Frechener Jungs war es verpönt, in den Kindergarten zu gehen. Der Kindergarten war was für Doofe – und für Mädchen.
Allem Fortschritt zum Trotz haben die heutigen Babys die gleichen Bedürfnisse wie die Babys der Steinzeit. Sie wollen es warm haben, wollen in den Arm genommen werden, getröstet, gefüttert, unterhalten, getragen. Ein Menschen-Kind wird mit einer wunderbaren Eigenschaft geboren: Urvertrauen. Als Nesthocker weiß es noch lange nicht, was gut für es ist, es kann sich nicht wehren, wenn man es verletzt. Ein Rest “gesunder Tierverstand” (Friedrich Nietzsche) lässt die meisten Eltern das Richtige tun: Sie kümmern sich um ihr Kind und passen auf, dass niemand ihm wehtut.
In den frühen menschlichen Gesellschaften haben vermutlich fast ausschließlich Frauen die neugeborenen Kinder versorgt und beschützt. Wir müssen uns vorstellen, dass die Frauen vor der Sesshaftwerdung des Menschen innerhalb ihrer zahlenmäßig überschaubaren “Gesellschaft” machtvoll waren, jedoch nicht im heutigen, landläufigen Sinne. Sie hatten keine Macht über andere Menschen, sondern waren das Zentrum ihrer Gruppe. Ihre Macht war nicht angemaßt, sondern naturgegeben. Schließlich waren sie es, die das Kind neun Monate in sich trugen, es unter Todesgefahr zur Welt brachten und via Geburt das einzige für Neugeborene “bekömmliche” und das Überleben des Menschen sichernde Nahrungsmittel produzierten: Muttermilch.
Was die Macht der Frauen (auch für das Selbstbewusstsein der Männer) bedeutete, brachte der humorbegabte US-amerikanisch-deutsche Tübinger Forscher Nicholas Conard im Jahr 2009 auf den Punkt: „Bei mobilen Jäger und Sammlern ist das Schlimmste, was passieren kann, dass Frauen in den reproduktiven Jahren sterben oder gesundheitliche Probleme… Wenn ein paar Männer verschwinden, ist es nicht schlimm. Aber eine gesunde Frau, die Nachwuchs produzieren kann, ist für die Existenz der Gruppe in der Eiszeit sehr wichtig.“https://www.deutschlandfunkkultur.de/vor-zehn-jahren-erstmals-praesentiert-die-venus-vom-hohle-100.html (Fett-Markierung von mir).
Doch der tiefe Respekt vor der Frau hatte mehr als nur praktische Gründe. Denn “was hat die steinzeitliche Welt so lange in der Balance gehalten? Warum hat der Gebrauch von Werkzeugen und Waffen nicht zur Selbstzerstörung geführt? … Entscheidend war die Liebe zum Leben: Das Gespür für Natur, die Ehrfurcht vor der weiblichen Gebärfähigkeit und die Einbettung des menschlichen Daseins in den göttlichen Kosmos…“ https://stellwerk60.com/2022/07/09/elfchen-im-siebten-schoepfungswonne/ Als Gebärende bekommt die Frau eine Ahnung von der allem Lebendigen innewohnenden Schöpfungskraft. Der Schlüssel zur Wahrnehmung dieses Vermögens, das das Gegenteil ist von simpler (männlicher) Muskelkraft, sind die Geburts-Wehen, ein Potential, das in jeder Frau “schlummert”, ob sie ein Kind zur Welt bringt oder nicht.
Es war den Jägern und Sammlerinnen bewusst, dass wir Menschen mit allen Kreaturen verwandt und Teil der Natur sind. Sie wussten, dass der Wechsel der Jahreszeiten die Fruchtbarkeit sicherstellt. Sie lebten in den relativ ruhigen Zeiten vor sich häufenden “Extremwetterereignissen”, vor “Lichtverschmutzung” und “Lichtsmog”. Der wolkenlose Nachthimmel war klar und der Zusammenhang zwischen Mondrhythmus und Menstruationszyklus unübersehbar.
Die besondere Nähe der Frau zur Natur war offenbar. Die frühen Menschen erfuhren Natur in ihrer Grausamkeit (Erdbeben, Hungersnöte, Mütter- und Kindersterblichkeit u.u.), aber auch in ihrer mannigfaltigen Schönheit und ihrem zyklischen Wiedererwachen. Und eines lernten die Menschen von den wilden Tieren: Um die “Natur nicht zu erzürnen” und um diese Welt in Balance zu halten, darf sich jede Kreatur nur so viel von der Natur nehmen, wie sie zum Überleben braucht.
Wenn man von einer “Ursünde” reden will, dann ist es die, dass Männer die Macht ergriffen und der Natur den Krieg erklärten. Mit des Vatergottes Segen machten sie sich die Erde untertan und versuchten, die Natur zu kontrollieren und restlos zu beherrschen. Sie kreierten den “Feind” und erfanden Waffen, die nicht mehr der Verteidigung gegen wilde Tiere dienten oder der Jagd, sondern der Tötung von Artgenossen, der Vernichtung von Mitmenschen. Was die gegenwärtige Welt mehr als notdürftig “zusammenhält”, ist das Gegenteil einer natürlichen Balance: Das Gleichgewicht des Schreckens. Die feigste, perfideste und erbärmlichste Drohgebärde ist die Drohung mit der Atombombe.
Die Natur ist nicht paradiesisch. Auch wir Menschen einer technisierten Welt werden immer wieder daran erinnert, dass wir sterblich sind. Geburt, Krankheit und Tod lassen sich -trotz aller wissenschaftlichen Bestrebungen- nicht abschaffen.
Die medizinische Wissenschaft hat viel Gutes bewirkt, schlägt aber immer mehr über die Stränge. Frauen müssen heutzutage keine Angst mehr davor haben, bei der Geburt zu sterben. Der Notkaiserschnitt ist eine große medizinische Errungenschaft. Doch die Option Kaiserschnitt hat ihren Preis, denn das ärztliche Versprechen einer “sicheren Geburt” geht einher mit einer engmaschigen Gesundheitskontrolle. Das jedoch öffnet nicht nur der Medizin, sondern auch der Gesundheitspolitik Tür und Tor.
Wir erleben eine immer weiter fortschreitende Entmündigung der Frau und eine Medizinisierung des Lebens, insbesondere da, wo es beginnt. Die Räume einer genuin weiblichen Erfahrung -wie Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt- sind längst von der Medizin in Besitz genommen worden. Im Rahmen der Schwangerenvorsorge wird die Frau Objekt der Gynäkologie. Ihr Blut wird auf mögliche Anomalien hin untersucht, ihr Bauch ausgeleuchtet, ihr Fötus vermessen. Der Mutterleib ist nicht mehr dunkler, primärer Schutzraum, sondern sein Gegenteil: Durchleuchteter “öffentlicher Ort” (Barbara Duden).
Jede Geburt ist nicht nur ein Hervorbringen, sondern auch eine Trennung. Nach der Abnabelung lernen sich “Mutter” und “Kind”, die keine Einheit mehr sind, sondern zwei verschiedene Menschen, überhaupt erst kennen. Um im Anschluss an die Zweieinigkeit im Mutterleib eine Symbiose aufbauen zu können, muss die Mutter, nachdem sie ihr Kind geboren hat, es zu sich holen, sich mit ihm anfreunden. Dieses elementare Wiederfinden, die Ur-Versöhnung, die ihre Zeit braucht, aber in aller Regel gelingt -insbesondere über das Stillen-, wird zunehmend gestört. Die moderne Medizin okkupiert die Leiber und treibt -anders kann ich es leider nicht sagen- einen Keil zwischen Mutter und Kind.
Kaum ist ein Kind abgenabelt, wird es von der Gynäkologie zur Kinderheilkunde weitergereicht. https://stellwerk60.com/2021/06/30/elfchen-im-sechsten-kinderfruherkennung/ Die “kostenlosen”, meines Erachtens übertriebenen und in ihrer Maßlosigkeit grenzüberschreitenden Kinderuntersuchungen 1-9, die alle in die Vorschul-Zeit fallen, enthalten nicht nur “Vorsorgeuntersuchungen”, sondern sind mit immer zahlreicher werdenden “kostenlosen” Impfungen und Auffrischimpfungen verknüpft, vor allem, aber längst nicht nur gegen Kinderkrankheiten. Und welche Eltern sagen schon NEIN, wenn eine Organisation mit dem Ehrfurcht einflößenden Namen “Ständige Impfkommission” (STIKO) eine Impfung empfiehlt? Was die Kinder bei den U-Untersuchungen erwartet (ihnen “blüht”), wird in einem “Patienten”(!)-Flyer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) anschaulich beschrieben. https://www.kbv.de/media/sp/Patientenflyer_Frueherkennungsprogramm_Kinder_final.pdf
In den Bundesländern Baden-Württemberg, Hessen und Bayern ist die Teilnahme der Kinder an allen U-Untersuchungen Pflicht. Doch auch in den anderen Bundesländern lassen sich die Kindertagesstätten, wenn Eltern ihr Kind anmelden, nicht nur einen Impfpass mit Nachweis der verpflichtenden Masernimpfung, sondern oft auch ein Heft vorlegen, das die Teilnahme des Kindes an den U-Untersuchungen dokumentiert. Im “Frei”staat Bayern ist darüber hinaus die Teilnahme an der J1 Pflicht. “Art. 14 GDVG verpflichtet Eltern, die Teilnahme ihrer Kinder an den Früherkennungsuntersuchungen („U-Untersuchungen“ U1 bis U9, J1) sicherzustellen.” https://www.stmas.bayern.de/kinderschutz/praevention/index.php
J1 meint eine Untersuchung für Jugendliche von 12 bis 14 Jahren, die im Jahr 1998 eingeführt wurde. Im Rahmen der J1 wird der “Impfstatus” überprüft und mittlerweile auch die “kostenlose” Impfung gegen HPV (Humane Papillomaviren) empfohlen. Wenn sich die Jugendlichen zur Untersuchung angemeldet haben, bekommen sie einen Frage-Bogen in die Hand gedrückt. Den Fragebogen gibt es in verschiedenen, mehr oder minder indiskreten Fassungen. Hier ein Auszug aus der Version von http://www.kinderaerzte-im-netz.de:
“Hast du Sexualprobleme?” – Angesichts von so viel ärztlichem “Interesse” sehen viele Jugendliche rot. Kein Wunder, dass nicht einmal 30% aller deutschen Dreizehnjährigen zur J1 gehen. Ich finde diesen nassforsch-lässig das “Du” benutzenden Aus-Fragebogen scham- und respektlos.
(Kleine Ergänzung 16.3.2023: Gerade habe ich gelesen, dass im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung namens U Null neuerdings bereits Föten in der Kinderarztpraxis vorstellig werden können! “Die U0, eine neue Vorsorgeuntersuchung am Ende der Schwangerschaft, ist ein Angebot für werdende Mütter ab der 28. Schwangerschaftswoche bzw. Eltern, sich beim Pädiater vor der Geburt zu wichtigen Themen der Babygesundheit informieren zu lassen. Sie wird ab dem 1.1.2023 von bestimmten Krankenkassen kostenlos angeboten.” https://www.kinderaerzte-im-netz.de/mediathek/u0-vorsorge/)
Babys sind noch nicht in der Lage, ein Kreuz in einen Kringel zu malen. Das schützt sie leider nicht davor, geimpft zu werden, auch gegen eine Krankheit, die ihnen kaum etwas anhaben kann und die sie nicht einmal übertragen. Seit Ende Oktober 2022 wird die Corona-Impfung mit dem Impfstoff von BionTech von der STIKO auch für vorerkrankte Kinder ab sechs Monaten empfohlen, wobei “vorerkrankt” so weit ausgelegt werden kann, dass bis zu 10% der Kinder ab sechs Monaten darunter fallen.
Hiermit unterwirft sich die deutsche der rigiden und riskanten US-Gesundheitspolitik. “Es gibt Länder wie Schweden, Dänemark, die Schweiz, Großbritannien, die empfehlen Kindern unter zwölf gar keine Impfung, also auch keinen Babys oder Kleinkindern. Der Nutzen sei einfach nicht groß genug. Ganz anders die USA: Dort raten die CDC zur Impfung für alle Babys und Kleinkinder, die Weltgesundheitsorganisation sieht das ähnlich.”https://www.deutschlandfunk.de/wie-wichtig-sind-corona-impfungen-fuer-vorerkrankte-kleinkinder-100.html
Indirekt gibt es in Deutschland die Baby-Impfung schon länger. Seit September 2021 empfiehlt die STIKO sowohl stillenden als auch schwangeren Frauen die Corona-Impfung. Ziel der Impfung ist nicht nur der Schutz der Mutter vor einer Corona-Infektion, sondern der Schutz des neugeborenen bzw. ungeborenen Kindes. Die stillenden bzw. werdenden Mütter sollen via Muttermilch bzw. Mutterkuchen Antikörper an ihr Kind weitergeben und so den “Nestschutz” optimieren.
Diese Empfehlung ist angesichts der Tatsache, dass Babys kaum an Corona erkranken, meines Erachtens inakzeptabel. Völlig missachtet wird, dass die Mutter nicht nur Antikörper, sondern auch Chemikalien sowie mögliche Langzeit-Nebenwirkungen der Impfung an das Kind weitergibt. Die Empfehlung der STIKO ist schon deshalb fahrlässig, da das Blut von neugeborenen Kindern ohnehin schwer mit Schadstoffen belastet ist. Im Jahr 2021 wurde das Ergebnis einer Studie publik. Ein US-amerikanisches Forscherteam konnte “109 verschiedene Chemikalien im Blut der Babys und der Mütter nachweisen. 40 davon stammen aus Weichmachern, 29 aus Medikamenten, 28 aus Kosmetikprodukten und 25 aus typischen Haushaltsmitteln. Außerdem entdeckten die Wissenschaftler 23 Pestizide, sieben polyfluorierte Alkylverbindungen und drei Flammschutzmittel.”https://www.forschung-und-wissen.de/nachrichten/medizin/109-industriechemikalien-im-blut-neugeborener-babys-13374840
In meinem Blogbeitrag zum Dreifach-Elfchen im Elfchen schrieb ich: “Ich denke, dass die fotorealistische Darstellung der Impfung eines Kindes die Phantasien pädophil gestörter Männer… anregt. Dass das Bundesgesundheitsministerium im Rahmen der Impf-Werbung diese Bilder in Umlauf bringt bzw. bringen lässt, ist meines Erachtens verwerflich.” https://stellwerk60.com/2022/11/30/dopp-elfchen-im-elften-kinder-die-was-wollen/
Doch was ist an dem Foto so schrecklich? Ich denke nach…
Wahrscheinlich finde ich es deshalb so schrecklich, weil es (indirekt) die hoch umstrittene Corona-Baby-Impfung banalisiert und dabei auch noch lustig daherkommt. Vermutlich bringt der erschrockene Gesichtsausdruck des nichtsahnenden Kindes viele Leute zum Schmunzeln. Wir kennen den untergründig fiesen Humor aus einer Urschrift der “Schwarzen Pädagogik” (Begriff: Katharina Rutschky), dem “Struwwelpeter”.
Das Buch, das der Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann für seinen dreijährigen Sohn schrieb und illustrierte, fanden damals viele Menschen lustig. So hieß die Erstausgabe im Jahr 1845 noch nicht “Struwwelpeter”, sondern erschien unter dem Titel Lustige Geschichten und drollige Bilder für Kinder von 3–6 Jahren.” Nun, so “drollig” ist es nicht, auch wenn der Titel den Leuten sagt, dass sie lachen dürfen.
Der Erwachsene ist immer stärker als das Kind. Er hat die Macht, es physisch oder psychisch zu verletzen. Das geht leicht, Kinder sind unendlich verletzlich. Vor allem kann man Kindern mit den einfachsten Tricks Angst einjagen. Der “Struwwelpeter” arbeitet mit simplen Tricks. Wenn die Kinder nicht gehorchen, drohen die schlimmsten Strafen, bis hin zu Verstümmelung oder Tod. Und diese Strafen -das erzählt uns der “Struwwelpeter”- haben sich die Kinder auch noch selber eingebrockt.
Erwachsene lachen über den “Struwwelpeter”, denn die Geschichten provozieren ein allzu menschliches Gefühl: Schadenfreude. Gegenüber Kindern (und seien es deren literarische Pendants) Schadenfreude zu empfinden, finde ich feige und schäbig.
Hoffmann selber muss eine sadomasochistische Freude daran gehabt haben, sich das Zufügen der Schmerzen und das Leid der Kinder auszumalen, denn das Buch ist auf ekelhafte Weise “gelungen”. Dabei wählt er das literarische Mittel der Übertreibung. Erwachsene wissen: Kein Kind wird sterben, wenn es die Suppe, die man ihm vorsetzt, nicht isst. Keinem Kind wird ein Schneider mit der Scher‘ die Daumen abschneiden, weil es am Daumen lutscht. Kleine Kinder wissen das noch nicht. Sie glauben den Erwachsenen alles.
Die Geschichten, die ganz alltäglich daherkommen, machen den Kindern Angst, die eindringlichen bunten Bilder schleichen sich in ihr Unbewusstes und verursachen Alpträume. Und was tun die Kinder? Aus Angst, dass es ihnen ähnlich ergehen könnte wie Paulinchen, Konrad oder Robert, laufen sie zu den Erwachsenen über und tun das, was Sigmund Freuds jüngstes Kind, die Psychoanalytikerin Anna Freud, in den 1930er Jahren “Identifikation mit dem Aggressor” genannt hat.
So verkneifen sich die Kinder jegliches Mitgefühl, denn das würde wehtun. Sie zeigen mit dem Finger auf den ungepflegten Struwwelpeter, mit dessen weltberühmt gewordenem Bild das Buch beginnt, und lachen ihn aus: “Sieh einmal, hier steht er, Pfui! der STRUWWELPETER!”
***
In den über hundert Jahren, die zwischen den beiden Bildern (Quellen: s.o.) liegen, sind weltweit immer mehr Hemmschwellen gefallen- nicht nur im Krieg.
Im September hatte ich über das Bau-Vorhaben der Deutschen Bahn in Köln-Nippes berichtet. Die Pläne der BAHN sind so brutal und lebensfeindlich, dass sie uns irreal erscheinen. Wir Menschen, die in der Nähe der Nippeser S-Bahn leben, können und wollen nicht glauben, dass die Vertreter der BAHN es nicht gut mit uns meinen. Von einem Privatunternehmen erwartet man profitorientiertes Kalkül, aber die Deutsche Bahn ist kein Privatunternehmen, sondern ein bundeseigener “Mobilitäts- und Transportkonzern”, der der Bundesrepublik Deutschland gehört, also sozusagen uns allen.
Die Bahn weckt nostalgische Gefühle in uns, denn sie ist Teil unserer Kindheit: “Zuch zuch zuch zuch Eisenbahn, wer will mit nach Kölle fahr’n? Kölle ist geschlossen, Schlüssel ist gebrochen…” Dieses kleine Lied habe ich Anfang der 1960er Jahre im Kindergarten gesungen. Es weckte meine Neugier auf Kölle und ist -so bekloppt sich das anhört- nicht ganz unschuldig daran, dass ich seit 1977 hier lebe. Das Lied gibt es noch heute, allerdings in freundlicheren Versionen ohne gebrochenen Schlüssel. Meine Kinder haben es vor zwanzig Jahren so gesungen: “Tuff tuff tuff tuff Eisenbahn, wer will mit in’ Urlaub fahr’n? Alleine reisen mag ich nicht, da nehm’ ich mir die Oma mit…”
Nebenbei gesagt: Kindische Männer singen das Liedchen auch noch, wenn sie erwachsen sind, dann aber eher in der albernen Blödelversion von Wigald Boning und Olli Dittrich (“Die Doofen”): “Tuff, Tuff, Tuff ( Wir fahren in den Puff )” https://www.youtube.com/watch?v=ctmlV2ZzelQ, einer Art Vorläufer-Liedchen des diesjährigen Ballermann-Tophits Layla.
Doch der aktuelle Plan der Deutschen Bahn ist, was Köln-Nippes angeht, nicht einmal mehr schön blöd, sondern gar nicht mehr schön, denn was man uns androht, ist der “Bau eines Zuführungsgleises und damit einhergehend die Zerstörung großer Teile des letzten Grüns diesseits der S-Bahn-Linie, eine jahrelange Großbaustelle in unmittelbarer Siedlungsnähe und -nach Beendigung der Bauarbeiten- ein stetiger nächtlicher S-Bahn-Verkehr („Geisterzüge“).” https://stellwerk60.com/2022/09/27/elfchen-im-neunten-liebe-laermschutzriegel-bewohnende/
Mitglieder des Vereins Nachbarn 60 der autofreien Siedlung hatten -wie berichtet- Ende Juli eine Arbeitsgruppe gebildet, um eine gemeinsame Einwendung zu formulieren und Unterschriften gegen den Ausbau zu sammeln. Wir -ich war mit dabei- standen nicht nur unter leichtem Schock, sondern unter ziemlichem Zeitdruck, denn der Abgabetermin bei der Bezirksregierung war der 15.8.2022. Wir hatten erst spät realisiert, dass ein erneutes Planfeststellungsverfahren läuft, denn erst durch Mails und Aushänge der Anwohnergemeinschaft Nippes (AWG) waren wir (mitten in den NRW-Sommerferien, aber gerade noch rechtzeitig!) wachgerüttelt worden. https://www.awg-nippes.de/grossbaustelle-bahn-in-koeln-nippes-verfahren-geht-wieder-los-einwendungen-bis-15-08-2022-moeglich/
Wir machten die Erfahrung, dass es sehr schwer es ist, eine Nachricht innerhalb der ganzen Siedlung zu verbreiten, noch dazu eine höchst unangenehme. Die Mitglieder des Vereins Nachbarn60 sind zwar über einen Mail-Verteiler miteinander verbunden, aber nicht alle Bewohner sind im Nachbarschaftsverein. Viele Nachbarn konnten und wollten die Sache nicht ernst nehmen. Auch ich hätte mich gerne doof gestellt, was mir aber mit zunehmendem Alter kaum noch gelingt. Dennoch schafften wir es, unsere gemeinsame Einwendung noch rechtzeitig abzugeben und allein in der autofreien Siedlung 280 Unterschriften zu sammeln, was etwa 20% aller Bewohnerinnen und Bewohner entspricht.
Weder die Stadt Köln noch Die Bahn ist einer Informations- oder Aufklärungspflicht nachgekommen- weil es so etwas nicht gibt. Wir waren ahnungslos und sollten es bleiben. Aus “gutem” Grund sind Stadt und Bahn offenbar nicht daran interessiert, die Menschen aufzuklären, zu informieren und in die Planungen mit einzubeziehen. Obwohl (oder weil?) der Bau des Zuführungsgleises ein massiver Einschnitt wäre und obwohl (oder weil?) es menschenfreundlichere, wenn auch teurere Alternativen gibt, will man keine Einwände hören, vor allem kein klares NEIN. Man tut so, als würde uns unmittelbar Betroffene die Angelegenheit nichts angehen. Mit dem vielbeschworenen demokratischen Dialog hat das nichts mehr zu tun.
Darüberhinaus unterliegen mögliche Einwände einer bürokratisch verklausulierten Widerspruchs-Logik, die eigentlich unlogisch ist: Wer sich nicht bis zum 15.8.2022 formal korrekt ausdrücklich gegen das Zuführungsgleis ausgesprochen hat, ist rein rechtlich dafür. Mit anderen Worten: Später kann man zwar sagen, man sei gegen den Gleisbau gewesen, aber juristisch ist das belanglos. Zum Beispiel können Haus- und Wohnungsbesitzer, die sich nicht bis zum 15.8.2022 formal korrekt ausdrücklich gegen das Zuführungsgleis ausgesprochen haben, später nicht mehr die zu erwartende Wertminderung ihrer Immobilie einklagen. Doch wie soll man Widerspruch einlegen gegen ein Vorhaben, über das man nicht einmal informiert wurde? Das ist grotesk und zutiefst undemokratisch.
Nun ist das aktuelle Nippeser Planfeststellungsverfahren (in dessen Rahmen man derzeit die Einwände prüft) nicht das erste. Die Deutsche Bahn musste seit 2007 bereits mehrmals “nachbessern”, vor allem, was die Höhe der geplanten Lärmschutzwände angeht, denn der zu erwartende Bahnlärm wäre enorm. Ich habe noch einmal woanders hingeguckt, nicht auf die Höhe, sondern auf die Länge der zu erwartenden Lärmschutzwände.
Hier offenbart sich die tragikomische Seite sogenannter “Lärmschutz-Maßnahmen”. Was uns nämlich zusätzlich zum Zuführungsgleis droht, ist ein völlig unzureichendes und noch dazu potthässliches Lärmschutz-Ungetüm, eine “Neu-Nippeser Mauer” mit einer Höhe von zwei bis vier bzw. sechs Metern. Unter dem Vorwand, uns schützen zu wollen, sollen die “Lärmschutzwände” lang ausfallen, sehr lang, sehr sehr lang. Was die Länge betrifft, muss die Bahn nicht einmal mehr nachbessern. Westlich der Gleisanlagen (dem Stadtteil Bilderstöckchen zugewandt) wäre, so hat man errechnet, eine Lärmschutzwand mit rund 430 m Länge erforderlich. Östlich der Gleisanlagen (Nippes und den Eisenbahner-Siedlungen zugewandt) plant man im Bereich des Zuführungsgleises drei Lärmschutzwände. Die eine hat eine Länge von knapp 290 m, eine zweite soll 640 Meter lang sein und eine weitere rund 425 m. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, sind das insgesamt 1355 Lärmschutzmeter. Will man Lärmschutz-Rekorde brechen?
Abgesehen davon, dass die Bewohner oberer Stockwerke (insbesondere der Mehrfamilienhäuser “Am Ausbesserungswerk”) den Bahnlärm nach Fertigstellung der Gleisanlage auch bei einer Höhe von sechs Metern mit voller Wucht abkriegen würden, bedeutet eine 1355 Meter lange Lärmschutzwand einen erheblichen Eingriff in die Integrität des ohnehin schon schwer in Mitleidenschaft gezogenen Lebensraums aller hier beheimateter Lebewesen.
Um zu verdeutlichen, wie monströs die “Neu-Nippeser Mauer” wäre, veröffentliche ich hier noch einmal die Gegenüberstellung zweier Fotos aus meinem oben erwähnten Blog-Beitrag vom 27.9.2022. Wer in die Fotomontage der AWG (rechtes Bild) noch zusätzlich zur Bahn eine Lärmschutzwand hinein imaginiert, kann sich vielleicht vorstellen, wie irrwitzig die Pläne der Deutschen Bahn sind: Noch vor dem Zuführungsgleis soll in einer Länge von 425 Metern eine in diesem Bereich sechs Meter hohe “Lärmschutzwand” errichtet werden.
September 2022: Noch nisten hier Rotkehlchen.
abfotografiert von einem Flyer der AWG aus dem Jahr 2017
Kürzlich habe ich den Bereich “Am Ausbesserungswerk” noch einmal von der anderen, der Südseite aus fotografiert. In den schmalen Streifen zwischen bestehender Bahntrasse und Fußweg sollen zwei Gleise (denn hier ist das Zuführungsgleis zum Zwecke quetschender nächtlicher Wendemanöver zweigleisig geplant!) und die Lärmschutzwand nebeneinander hineingebaut werden.
Sooo deutsch ist eine bestehende Schilder-Allee: Aktuell weisen, ordentlich aufgereiht, insgesamt 15 rot umrahmte Schilder darauf hin, dass man für die Feuerwehr Platz lassen soll. Für die gäbe es allerdings -so hat man errechnet-, würde das Zuführungs-Gleis gebaut, kein ordnungsgemäßes Durchkommen mehr.
Male ich mir all das aus, fühle ich mich in keiner Weise geschützt, sondern der Willkür der Deutschen Bahn schutzlos ausgeliefert. Es ist, als seien wir Menschen kleine Spielfigürchen, vergleichbar mit denen, die jedermann beim Modellbau-Anbieter Faller bestellen kann. E
Apropos Faller: Der Weihnachtsmann der Deutschen Bahn hat -so wurde mir erzählt- auch in diesem Jahr in ganz Köln Geschenke verteilt. Aber die wirklich hochwertigen Geschenke, so soll der Weihnachtsmann der Deutschen Bahn augenzwinkernd betont haben, die gab es exklusiv für die Pänz aus Köln-Nippes.
Der
Weihnachtsmann der
BAHN kam nicht
mit leeren Händen, sondern…
Faller-Lämschutzwänden!
Eine Lärmschutzwand im Mini-Format. Bestimmte Produkte sind laut Faller für Kinder unter drei Jahren wegen verschluckbarer Kleinteile nicht geeignet. Diese Faller-Lärmschutzwand ist ungefährlich für Kinder unter drei, könnte aber Kindern über drei Jahren Lust machen auf reale Kletterpartien. Meines Wissens fehlt bei dem Produkt der Zusatz “nicht geeignet unter 14 Jahren”. Wo er nicht fehlt, das sind die Faller-Strommasten, die man ebenfalls bestellen kann und die sich wunderbar mit der Lärmschutzwand kombinieren lassen. Abenteuerlustige Kinder bekommen sehr schnell heraus, dass sich Faller-Lärmschutzwände mit Faller-Figürchen beklettern lassen. Was die echten Lärmschutzwände betrifft: Da wird weiterhin “nachgebessert”, was die Höhe betrifft. Das freut die waghalsigen Kinder, denn Lärmschutzwände probiert aus, wem es im Frechener Chimpanzodrome zu langweilig ist.