Elfchen im Fünften: Das Recht weiblicher Papageien auf die besten Leckereien

Für uns Menschen sind die weiblichen Rotkehlchen kaum von den männlichen zu unterscheiden. Auch bei Meisen, Spatzen und Elstern sehen sich Weibchen und Männchen sehr ähnlich – um nur einige der Vögel zu nennen, die tagtäglich in unsere Gärten kommen. Die Rotkehlchen selber haben damit kein Problem. Um das Männchen zu erkennen, braucht das Weibchen weder Augen noch Ohren. Und sollte sich einmal ihr gegenüber eine Rotkehlchen-Frau als Männchen ausgeben und so laut singen, wie es sonst nur die männlichen Rotkehlchen tun, sollte also wirklich einmal ein Trans-Kehlchen um ihre Kralle anhalten, ließe sich das Rotkehlchen nichts vormachen: Du bist ein schmucker Mann, doch leider nur zum Schein, gemeinsam können wir nicht Eltern sein.

Das Rotkehlchen wird getrieben von einer unerschöpflichen Lebens-Energie. Würde man die Fortpflanzung als Sinn seines Lebens bezeichnen, hätte es gewiss nichts dagegen. Es selber stellt sich solche Menschen-Fragen nicht, schon aus Zeitmangel. Anders als erwachsene Menschen braucht es keine Gottes-Beweise, um zu wissen, dass es das Göttliche gibt. Auch uns Menschen ist die Fortpflanzungsfreude (inklusive Nähren und Versorgen) angeboren, nur müssen wir sie verdrängen und kontrollieren, denn sie erinnert uns daran, dass wir Teil der Natur sind. Das hören wir nicht gerne, denn als Naturwesen sind wir sterblich.

Intuition und Gespür sind den meisten Menschen abhanden gekommen. In der Silicon Society (David Lyon) vertrauen die Menschen nur noch dem Schein. Die Menschen mutieren zu Karikaturen. Was ist männlich, was weiblich? Für das Rotkehlchen gibt es keinen Unterschied zwischen biologischem und sozialem Geschlecht, und offenbar ist das gut so.

Es lebe der Unterschied…

Amseln und Halsbandsittiche haben einen ausgeprägten Geschlechterdimorphismus, was meint, dass sich die Geschlechter optisch klar voneinander unterscheiden. So bin selbst ich in der Lage, den Unterschied zu erkennen. Dass ich die Vögel auseinanderhalten kann, macht die Betrachtung spannend, denn als “Männchen” bzw. “Weibchen” werden diese Vögel zu “Personen”, zu eigenständigen Akteurinnen und Akteuren. Sie leben ihr Vogelleben – und führen uns Tag für Tag ein Spiel über das Leben vor.

Ihre Geschichten kommen uns bekannt vor, denn es sind Liebes- und Familiengeschichten. Die Themen der Halsbandsittiche sind unsere Themen: Liebe, Eifersucht und Zärtlichkeit, Essen, Trinken, Verdauung und Futterneid. Doch genaugenommen sind diese Themen keine Menschen-, sondern Papageienthemen, denn die Papageien existieren schon viel länger als wir. Es ist nicht anzunehmen, dass sie uns Menschen kopieren.

Erwachsene Halsbandsittich-Weibchen haben ein schwach angedeutetes, blassgrünes “Halsband”. Bei den Männchen hingegen ist es stark ausgeprägt. Es beginnt schwarz an der Kehle und umspannt orangerot das Genick. Da der Unterschied eindeutig ist, konnte ich beobachten, dass im Frühjahr ausschließlich Weibchen in unseren Garten kamen, um Erdnüsse zu picken.

Das erstaunte mich nicht. Schließlich entwickeln sich die Eier, entsteht das Leben in ihr, nicht in ihm. Und daher braucht insbesondere das Weibchen gutes, nahrhaftes Futter. Halsbandsittich-Weibchen lachen, wenn hungrige Männchen ihnen was von “Gleichberechtigung” vorkrächzen. Warum sollten Halsbandsittich-Männchen fress-gleichberechtigt sein, wozu?

In aller Regel ist im Tierreich die Partnerwahl Sache des weiblichen Tieres: Female Choice. So auch bei den Halsbandsittichen. Darüber hinaus bestimmt sie in der Brutperiode, wer welche Nahrung bekommt. Halsbandsittiche leben, wie ich gelesen habe, monogam. Dass die Sittiche ein Paar bilden, heißt aber noch lange nicht, dass Weibchen und Männchen sich das Essen “gerecht” teilen. Es heißt auch nicht, dass das Weibchen dem Männchen was abgibt. Schon gar nicht heißt es, dass das Weibchen -wie wir Menschen es von den Familien der 1960er Jahre kennen- dem Männchen das Essen serviert. Im Gegenteil.

In der unten stehenden kleinen Foto-Geschichte bekommen wir zu sehen, wie sich ein friedlich pickendes Halsbandsittich-Weibchen (zu erkennen am zartgrünen Halsband) erfolgreich gegen ein futterneidisches Männchen (schwarz gefärbte Kehle, rosa Halsband) zur Wehr setzt:

Der Futterspender ist frisch gefüllt mit geschälten, aber unbehandelten Erdnüssen. Das Weibchen findet heraus, wie es ein Halsbandsittich anstellen muss, trotz relativ kräftigem Schnabel an die Erdnüsse heranzukommen. Das erregt die Neu-Gier eines männlichen Artgenossen.

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In

kraftzehrenden Zeiten

der Papagei’n-Paarung verteilen

die Papagei’n-Weibchen die Nahrung:

Geschlechtergerecht

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Hier führen zwei Halsbandsittich-Weibchen vor, wie man die Erdnüsse erfolgreich vor den Männchen verteidigt. Rundum den Futterspender knüpfen sie weibliche Futter-Bande.

Elfchen im Vierten: “Kleiner Ästling”

Vor einiger Zeit las ich ein Interview mit einem Paartherapeuten namens Eric Hofmann. Darin ging es um einen neuen Promi-Trend, die sogenannte “Sologamie”, die Heirat mit sich selbst. Was wie ein Gag aus einem Woody Allen- Film klingt, wird tatsächlich praktiziert, vor allem von Frauen um die 30. So soll Pop-Star Selena Gomez (30) vor ein paar Monaten Pop-Star Selena Gomez (30) geheiratet haben. 

Nun können es die meisten Medien-Promis in (der) Wirklichkeit keinen Moment alleine aushalten. Sie wetteifern um permanente öffentliche Aufmerksamkeit und sind sich selber längst abhanden gekommen. “Sologame” merken nicht, dass die “Sologamie” zwar ein hübsches Gesellschafts- und Medienspiel ist, als “lustige” Selbstzurschaustellung aber ein Schlag in den Nacken derjenigen, die wirklich alleine sind. Ein einsamer Mensch käme wohl kaum auf die Idee, sich selber zu heiraten.

Obwohl die “Sologamie” nicht viel mehr ist als ein Werbegag, nimmt Paartherapeut und Buchautor Eric Hofmann den Trend sehr ernst. Wohl aus beruflichem Interesse, denn wenn der Mensch solo ist, gibt es kein Paar mehr – und dementsprechend keine Paartherapie. Auch der Ehe stellt Hofmann ein eher nüchternes Zeugnis aus, ebenfalls aus beruflichem Interesse, denn Eheleute, die nach vielen Jahren immer noch harmonieren und sich nicht miteinander langweilen, brauchen keine Paartherapie. Hofmann: “Hier muss auch noch einmal deutlich gemacht werden: Die Ehe als romantisches Modell ist eine sehr neue Erfindung. Bis vor wenigen Hundert Jahren wurde nicht aus Liebe geheiratet. Liebe war im Gegenteil als Sicherheitsrisiko für diese vor allem wirtschaftliche und für Frauen existentielle Verbindung verpönt.https://web.de/magazine/liebe-partnerschaft/paartherapeut-interview-sologamie-37730146

Doch was sagen unsere Singvögel dazu, die gattungsgeschichtlich viel älter sind als wir? Führen Wild-Vögel, die in beeindruckender Zweisamkeit liebevoll ihren Nachwuchs umsorgen, nicht auch eine Art (wilder) Ehe? Wie wir wissen, leben Amseln überwiegend monogam und bleiben in der Regel über mehrere Brutperioden zusammen. Mich haben die Amseln gelehrt, dass die Ehe weder ein “romantisches Modell” ist noch “eine sehr neue Erfindung”, noch, dass Menschen sie kreiert haben.

Wenn der Amsel-Mann im frühen Frühling sein wohlbekanntes Lied anstimmt, tut er es nicht, um die Amsel-Frau für sich zu gewinnen. Das muss er nicht, denn sie hat sich schon vor Jahren für ihn entschieden. Und doch bringt er sich singend in Erinnerung: Weißt du noch?

Manchmal singt der Amsel-Mann, um sich vor Nebenbuhlern zu brüsten, doch eigentlich singt er aus Liebe, nicht nur zur Amsel-Frau. Er singt aus schierer, unbändiger Frühlings-, Fortpflanzungs- und Lebensfreude. Denn nicht nur seine Frau ist ihm treu. Wenn die Welt wieder grün wird, wenn alles blüht, wenn das Gras wieder wächst und die Knospen platzen, dann weiß die Amsel: Auf den Frühling kann ich mich verlassen.

Die unauffällige Amsel-Frau hält sich im Hintergrund, aber sie hat die Fäden in der Hand beziehungsweise im Schnabel…

Schon Mitte März trägt die Amsel-Frau Material zusammen, um, wie es ausschaut, ein Nest zu bauen, zu unserer Freude im immergrünen Efeu, der direkt hinter der noch kahlen Buchenhecke unseren Gartenzaun überwuchert. Nach ein paar Tagen scheint das Nest fertig zu sein, denn die Amsel-Frau verschwindet -ohne was im Schnabel zu haben- immer wieder im dichten Grün. Ob sie Eier legt? Das Nest ist so gut versteckt, dass man es nur erahnen kann. An einem Abend, als beide Eltern-Tiere ausgeflogen sind, stelle ich mich auf einen Hocker, mache den Arm lang, greife vorsichtig dorthin, wo ich das Nest vermute, und ertaste drei eng beieinander liegende Eier.

Das Nest ist winzig, aber ein Junges überlebt.

Die deutsche Sprache hält für Singvogel-Küken zwei schöne Wörter parat. Küken, die noch im Nest hocken, sind “Nestlinge”. Wenn sie das Nest verlassen haben, sich aber noch nicht selbstständig versorgen können, nennt man sie “Ästlinge”.

Dabei hat es zunächst nicht gut ausgesehen. Der Amsel-Vater verletzt sich und steht und hüpft nur noch auf einem Bein. Das Abheben, Fliegen und Landen klappt, aber das Rosinen-Picken ist so anstrengend, dass er sich zwischendurch ausruhen muss. Ohne die Kooperation beider Eltern kann ein Amsel-Küken nicht überleben. Wird der Amsel-Vater rechtzeitig wieder gesund sein?

Eine Woche vor Ostern steht der Amsel-Vater wieder auf beiden Beinen. Abwechselnd mit der Mutter-Amsel fliegt er mit Futter im Schnabel das Nest an. Ein gutes Zeichen: Mindestens ein Junges muss geschlüpft sein.

17.4.2023: Eine Woche nach Ostern fliegen die Amsel-Eltern das Nest nicht mehr an. Das Jungtier hat das Nest verlassen. Noch am selben Tag zeigt es sich uns.


Flüssigkeit ist für das Jungtier überlebensnotwendig. Doch es muss erst lernen, dass es Wasser nicht verschlingen darf, sondern schlucken muss. Daher ist es gut, dass ein Regenwurm, wie ich lese, zu 90% aus Wasser besteht. Dass ausgerechnet der Sänger mit dem goldenen Schnabel mit eben jenem Schnabel die Würmer zerhackt, schmerzt mich. Zum Trost sage ich mir: Die Amsel handelt aus Eltern-Liebe. Und sie wird nur so viele Regenwürmer zerkleinern und verfüttern, wie das Jungtier zum Großwerden braucht.

Wenn ein Fressfeind ihr Junges bedroht, zögern Amsel-Eltern nicht lange. Sie sind so sehr eins mit ihrem Jungtier, dass sie nicht nur ihr Küken, sondern mit dem Küken sich selber verteidigen. Ich beobachte, wie Männchen und Weibchen gemeinsam schreiend und pickend eine Elster vertreiben und ein anderes Mal die dicke Nachbarkatze, eine gute Jägerin, die meiner Nachbarin einmal ein frisch erlegtes Jungkaninchen serviert hat.

Auch wir Menschen kennen das: Elternliebe setzt ungeheuerliche Kräfte frei. Wir sind da besonders menschlich, wo wir den Tieren am ähnlichsten sind.

Ob Mensch oder Amsel: Elternliebe ist schön, aber anstrengend. Die Amsel-Eltern wirken tagelang hektisch und nervös. Während das Mutter-Tier immer noch einen klaren Kopf behält, überreagiert der Amsel-Vater und vertreibt sogar die freundlichen Tauben.

Dann ist mit einemmal alles wie früher. Von einem Tag auf den anderen wirken die Amsel-Eltern entspannt, sie essen die Rosinen selber und haben keine Würmer mehr im Schnabel. Was kann das bedeuten, wo ist “Kleiner Ästling”?

Doch nach drei Tagen…

Noch ist “Kleiner Ästling” nicht in der Lage, die Rosinen aufzupicken. Doch der Amsel-Vater ist geduldig. Sein Junges darf noch einmal (oder zweimal, oder dreimal…) den Schnabel aufreißen.
Suchbild mit Jungtier. Wo ist “Kleiner Ästling?”

Offenbar haben die Amseln ein genaues Gespür für den Moment, wo das Jungtier groß genug ist und in der Lage, sich selber mit Futter zu versorgen und sich vor Fressfeinden zu schützen. Sein Instinkt ist dem Jungtier angeboren, aber es muss noch in seine Aufgabe (Leben und Leben geben) hineinwachsen.

Ihr Instinkt verleiht der Amsel Sicherheit. Niemand muss einer Eltern-Amsel sagen, was sie zu tun hat. Sie zwitschert auf Rechte und Pflichten.

Über

Nachfragen, wer

das Brut-Sorgerecht hat,

lacht die Amsel sich

schlapp

“Buhoo”, “Uhju” und “Ohuuu” – Erinnerung an unseren Hütehund Freki

*3.3.2010

Silvester 2016: Freki am Strand von Bergen aan Zee

Vor etwa drei Jahren hat mich am Eingang der Siedlung einmal ein freundlicher Radfahrer angesprochen. Er stellte sich als Sozialarbeiter der Stadt Köln vor. Seine Aufgabe war es, sich vor Ort ein Bild vom sozialen Klima in der autofreien Siedlung zu machen. Konkret wollte er wissen, ob es abendliche Ruhestörungen gäbe, denn bei der Stadt gingen immer wieder Meldungen ein. Mich sprach er an, weil sich, wie er sagte, niemand so gut in einem Wohnumfeld auskenne wie die Menschen, die mit Hunden zusammenleben. Schließlich müssen Hunde zu verschiedenen Tageszeiten ausgeführt werden, auch am späten Abend.

Allzu viel konnte ich zu den Ruhestörungen nicht sagen. Am späten Abend mache ich einen Bogen um die zwei Tischtennisplatten in der Nähe der KiTa, wo manchmal fiese, angespannte Männer rumhängen, denen nichts Besseres einfällt, als Bierflaschen zu zerdeppern. Schlägereien habe ich aber nie mitgekriegt. Freki war mir da ähnlich, er ist möglichen Beißereien von vornherein aus dem Weg gegangen und wurde nur böse, wenn man ihn bedroht hat. Manchmal hat er schon von weitem Hunde angeknurrt, mit denen “etwas nicht stimmte”. Unser verspielter Hund wurde dann mit einem Mal starr und angespannt. Er hatte -wie viele Hütehunde- ein sicheres Gespür für scharf gemachte, von Menschen abgerichtete Artgenossen. Deren für mich kaum wahrnehmbare latente Beißbereitschaft muss Freki “gerochen” haben. Wenn Gefahr droht, bemerken das die sensiblen Hunde oft eher als wir.

Manchmal konnte ich mich abends kaum noch dazu aufraffen, mit Freki eine Runde zu drehen. Aber wenn ich dann einmal draußen war, war ich oft länger unterwegs, als ich mir vorgenommen hatte. Ohne Freki wüsste ich nicht, dass in der Nähe der Nippeser S-Bahn-Trasse einige Füchse leben, die spätabends auch durch die autofreie Siedlung streifen.

Die vierbeinigen Fressfeinde des Fuchses dürften kaum bis in die Siedlung vordringen, aber was ist mit denen, die fliegen können?

Nur dank Freki habe ich mitbekommen, dass im Sommer 2022 am Rand der autofreien Siedlung ein Uhu gelandet ist. Von dem außergewöhnlichen Besuch erzählte mir eines Abends ein Bekannter aus der Nachbarsiedlung Werkstattstraße, der hier allabendlich seinen Hund ausführt. Er zeigte mir die Stelle, wo er drei Tage zuvor eine “extrem große Eule” gesehen hatte. Sie saß auf einem Pfosten des Zauns hinter der KiTa “Lummerland”. (Interessanterweise waren Freki und ich an genau der Stelle einige Wochen zuvor einem grauen Jungfuchs begegnet.) Als mein Nachbar näher kam, ist der Vogel weggeflogen. Und dieses Abheben war beeindruckend, denn die Spannbreite der Flügel war enorm: “Es waren bestimmt anderthalb Meter”. “Ein Uhu?”, fragte ich. Mein Nachbar zuckte die Achseln. Dass er mitten in Köln-Nippes einem Uhu begegnet sein sollte, konnte er kaum glauben.

Als ich nach Hause kam, stellte ich gleich den Rechner an. Es gibt tatsächlich noch (oder wieder) Uhus im Kölner Raum! Vor ein paar Jahren haben der NABU Stadtverband Köln und die NABU Naturschutzstation Leverkusen Köln ein gemeinsames Projekt gestartet: „Eulen im Kölner Raum.“ Im Rahmen dieses Projekts sind wir Kölnerinnen und Kölner aufgerufen, alle Eulen, die wir bemerken, zu melden. “Wenn Sie nächtliche Rufe vernehmen oder lautlos ein Tier über sich fliegen sehen, schreiben Sie Ort, Datum, Uhrzeit und die Art der Eule bzw. die Beschreibung des Rufes auf und melden es uns …https://www.nabu-koeln.de/projekte/eulenprojekt/. Der Aufruf war erfolgreich, denn im Jahr 2020 sind neben anderen Eulen drei Uhus und im Jahr 2021 sogar vier Uhus “gesichtet” worden. Die Dunkelziffer dürfte jedoch weit darüber liegen.

Dass ein Uhu am Rand einer dicht gebauten Wohnsiedlung landet und eine ganze Weile auf einem vielleicht zweieinhalb Meter hohen Zaunpfosten hockt, kommt natürlich nur selten vor. Ich sehe den Besuch der großen Eule auch als warnenden Hinweis. Noch hat man die hier wild lebenden oder landenden Tiere nicht restlos vertreiben können. Doch sollte das von der Deutschen Bahn geplante Zuführungsgleis tatsächlich gebaut werden, dürfte es mit überraschenden, wundersamen Begegnungen zwischen Mensch und Tier wohl für immer vorbei sein.

Der Nippeser Uhu hat an dem Abend keinen Laut von sich gegeben, auch nicht den, nach dem er benannt ist. “Ebenso charakteristisch ist sein namensgebender Balzruf: Das dumpfe, bis zu einem Kilometer weit tragende “buhoo” des Männchens und das hellere “uhju” des Weibchens verraten seine Anwesenheit auch, wenn man ihn nicht zu Gesicht bekommt. Die Rufe werden im Acht- bis Zehnsekundentakt aneinandergereiht, dienen der Revierabgrenzung und sind ganzjährig zu vernehmen. In der Herbst- und Frühjahrsbalz hört man sie oft im Wechselgesang, nur selten dagegen während der Brutzeit.” https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/aktionen-und-projekte/vogel-des-jahres/2005-uhu/02779.html.

Tiefe Laute der Liebe können auch Hunde ausstoßen. Einmal ist Freki -wenn auch nur zum Schein- Vater geworden. Soweit ich mich erinnere, war es im Frühsommer 2015. Freki war fünf Jahre alt. Hündin Mona (Name geändert), die damals noch in Stellwerk 60 lebte, war läufig und Freki nicht zu halten. Tagsüber hielt sich seine Sehnsucht in Grenzen, aber am Abend (alle, die jemals Liebeskummer hatten, kennen das) wurde Freki sehr traurig. Er winselte leise und seufzte. Eines Abends stellte sich Freki mitten in den Raum, hob die Schnauze, legte den Kopf in den Nacken und heulte mit tiefer Stimme: “Ohuuu…” Der Kopf kam kurz nach vorne, doch das Spiel begann von neuem: “Ohuuu”.

Ein paar Wochen später erzählte mir Monas Besitzer, dass die Hündin scheinträchtig war. Von wem, das traute ich mich nicht zu sagen. Mona musste Frekis Wolfsgeheul durch die zweifach verglasten Fensterscheiben hindurch gehört haben.

Das ist nicht Mona, sondern die Französin Colette (Name geändert), die im August 2021 in Perros-Guirec/Bretagne Urlaub machte. Freki und ich trafen Colette oberhalb vom Plage de Trestraou. Da Hunde in der Hauptsaison nicht an den Strand dürfen, was nicht unvernünftig ist, gingen Freki und ich -während sich unsere jungen Begleiterinnen am Strand amüsierten- spazieren. Leider konnte ich mich in keines der Cafés setzen, denn dann hätte ich geimpft, genesen oder (frisch) getestet sein müssen, was ich alles nicht war. Freki fand Colette doof und kokett, ich war entzückt. Ihre Besitzerin, die vermutlich permanent Anfragen bekommt, erlaubte mir, die fotogene Hündin zu fotografieren. Voilà!

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Anfang November ist auf unserer Terrasse an einem frühen Vormittag ein Turmfalke gelandet. Meine Tochter und ich bemerkten ihn durch die Fensterscheibe hindurch. Plötzlich schrie meine Tochter: “Der hat ja einen Vogel im Schnabel!” Sie riss die Terrassentür auf, aber der Falke ließ den piependen Vogel nicht los, sondern flog mit ihm davon. In dem Moment wussten wir, dass Freki, der schon sehr krank war, nicht mehr lange leben würde.

Maus im Bauch: Turmfalken-Weibchen Am Alten Stellwerk, Herbst 2019

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Freki musste am 7.11.2022 “eingeschläfert” werden. Dass man in der Tierheilkunde nicht davor zurückschreckt, die Prozedur “Euthanasie” zu nennen, wusste ich bis dahin nicht.

Wäre unser Garten größer, hätten wir die “sterblichen Überreste” dort begraben. So aber war die Einäscherung eine annehmbare Möglichkeit, den Körper vor der Entsorgung in der Tierbeseitigungsanlage zu bewahren. Am vergangenen Freitag wäre Freki 13 Jahre alt geworden. Meine Tochter und ich sind zum Rhein gefahren und haben in der Riehler Rheinaue, die Freki so sehr liebte, in dem Moment, als die Sonne sich kurz zeigte, einen Teil seiner Asche versenkt.

August 2018: Sennen Cove/Land’s End, Cornwall.

Elfchen im Zweiten: Gäbe es unsere Liebeslieder ohne die Regenwürmer?

Es gibt ein munteres Kinderlied, das modern klingt, aber schon über hundert Jahre alt ist: “Hörst du die Regenwürmer husten? Ahua, uha. Wie sie durchs dunkle Erdreich zieh’n. Wie sie sich winden und dann verschwinden, auf nimmer nimmer Wiederseh’n. Und wo sie waren, da ist ein Loch, Loch, Loch. Und wenn sie wiederkommen, ist es immer noch, noch, noch...”

Autor des Textes ist der evangelische Pfarrer und Dichter Georg Christian Dieffenbach (1822-1901). In der schmissig-heiteren Vertonung aus dem 20. Jahrhundert – nach der Melodie des Lieds Get Me to the Church On Time aus dem Musical My Fair Lady– wurde (und wird) das Lied nicht nur von Kindergartenkindern gesungen, sondern auch von marschierenden Bundeswehrsoldaten (und mittlerweile leider auch -innen), zu deren Repertoire zahlreiche Volks-, aber auch Kinderlieder gehören. Das Schuhwerk der Marschierenden ist so robust, dass der Regenwurm, dem die Uniformierten bei feuchter Witterung häufig begegnen, ihnen nichts anhaben kann.

Ich muss zugeben, dass mir Regenwürmer nicht ganz geheuer sind. Ich nehme die haarlosen, sich windenden Zwitter-Tierchen nicht gerne in die Hand, was ich aber manchmal tun muss, denn nach einem sommerlichen Regenschauer sind die Wege in der autofreien Siedlung in der Regel mit Regenwürmern übersät, die die Orientierung verloren haben.

Wir Menschen bringen Würmer mit Tod und Verwesung in Verbindung und nicht mit Leben und Blüte. Vor den Maden, den Larven der Fliegen, ekeln wir uns. Maden sind gefräßig. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich bis ins späte 19. Jahrhundert das Vorurteil hielt, dass Regenwürmer Schädlinge sind und Pflanzen anfressen. Die meisten Menschen konnten nicht glauben, dass die Regenwürmer für die Fruchtbarkeit des Ackerbodens unerlässlich sind. Warum war ausgerechnet der schnöde Regenwurm wichtig, und warum sollten ausgerechnet seine Ausscheidungen für das Gedeihen und den Ertrag der Pflanzen von elementarer Bedeutung sein?

Selbst der Gott der Bibel ist nicht vorurteilsfrei. Im Gegenteil: Er redet abschätzig über “alles Gewürm des Erdbodens”. “Füllet die Erde“, sagt er zu Adam und Eva (mit Menschen!), “und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.” (Gen 1,28, Luther-Bibel, https://www.die-bibel.de/bibeltext/1.%20Mose%201,28/)

Gottes Geringschätzung gegenüber den Kriechtieren kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass er die Schlange zum kriechenden Tier degradiert: “14Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht vor allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Staub fressen dein Leben lang. 15Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lesen/LU17/GEN.3/1.-Mose-3

Schlangen bewegen sich lautlos und sind Meisterinnen im Sich-Verbergen. Sie scheinen aus einer anderen Welt zu stammen. Schlangen nehmen Schallwellen wahr, aber auch feinste Boden-Vibrationen. Dass sie Sinne haben, über die wir Menschen nicht verfügen und für die wir keinen Namen haben, macht sie uns unheimlich. Auch dass Schlangen keine Beine brauchen, um sich am Boden (elegant!) fortzubewegen.

Den Menschen, die lebten, als die Texte der Genesis verfasst wurden, dürfte nicht entgangen sein, dass Schlangen gut klettern können, insbesondere die Äskulapnatter, die sich in der griechischen Mythologie um den Wanderstab des Gottes der Heilkunde windet, Asklepios (Äskulap”). Die Äskulapnatter, heute noch Symboltier für den ärztlichen Beruf, liebt es, sich auf Bäumen zu verbergen. Auch das ist uns Menschen nicht ganz geheuer. So ist es nicht verwunderlich, dass der Gott der Genesis die Schlange vom Baum holt.

In der Paradies-Geschichte ist die Schlange das Böse schlechthin, die Lügnerin, die Verführerin. Doch Gottes Furor richtet sich nicht gegen ein einzelnes Tier, sondern gegen die Unberechenbarkeit der Natur, die sich in der geheimnisvollen, vieldeutigen Schlange manifestiert. “Die Schlange ist ein Ursymbol”, schreibt Ingrid Olbricht (1935-2005), “… in fast allen Kulturen spielt sie in Mythen und im Brauchtum eine große Rolle. So bedeutete die Schlange einerseits Leben, Erneuerung, Verjüngung, Häutung, Auferstehung und andererseits Tod, Gift und Zerstörung. Sie symbolisierte die schöpferische Kraft der Erde. Sie war Begleiterin der Großen Mutter, geheimnisvoll wie sie, rätselhaft, intuitiv, eine unkontrollierbare, undifferenzierte, unerschöpfliche Lebenskraft. Weiterlesen: https://www.arbeitskreis-frauengesundheit.de/wp-content/uploads/2015/07/Symbol_der_Schlange.pdf (unbedingte Lese-Empfehlung!)

Abgestreiftes “Natternhemd”: Eine Freundin meiner älteren Tochter lebt in den Tessiner Bergen. Im Frühjahr 2022 hat sie direkt unter ihrem Fenster eine Schlangenhaut gefunden, die vermutlich, wie an der “Kopfbekleidung” zu erkennen ist, von einer Ringelnatter stammt. Bei der Schlange dürfte es sich um ein älteres Weibchen handeln, denn die abgestreifte Haut ist über einen Meter lang. Anders als etwa bei den Äskulapnattern ist bei den Ringelnattern das weibliche das wesentlich größere Tier. Das Bild ist der Ausschnitt eines Fotos, das meine Tochter, die zufällig dort war, mit dem Smartphone gemacht hat.

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Wenn auch zahnlos und weniger vieldeutig, so ist der “Gemeine Regenwurm” ebenfalls ein altes Symboltier: “In den frühen Epochen unserer Geschichte glaubte man, dass der Regenwurm über besondere Heilkräfte verfüge. Im Schamanismus galt er als Krafttier, das für Erneuerung und Heilung stand. Er diente als Orakel und beliebte Zutat für Zaubereien und Rituale. Im alten Ägypten wurde der Regenwurm sogar heiliggesprochen und stand unter dem Schutz von Königin Cleopatra.http://www.regenwuermer.info/regenwurm/bedeutung-bodenverbesserung.php

Die ersten Hinweise auf den großen praktischen Nutzen der Regenwürmer stammen aus dem 18. Jahrhundert. Der englische Schriftsteller und Naturforscher Gilbert White (“The Natural History and Antiquities of Selborne, 1789″) stellte dar, auf welche Weise der Regenwurm den Ackerboden lockert und somit die Entwicklung der Pflanzen fördert. Wissenschaftlich untermauert wurde die Bedeutung der Regenwürmer aber erst im 19. Jahrhundert, und zwar insbesondere durch Charles Darwin, der von White beeinflusst und beeindruckt war.

Der bekannte englische Naturforscher Charles Darwin hielt bereits 1837 vor der Geologischen Gesellschaft von London einen Vortrag über die Bedeutung der Regenwürmer bei der Bodenbildung („On the Formation of Mould“). Aber erst 1881 veröffentlichte er seine langjährigen und umfangreichen Beobachtungen in dem Buch „The Formation of Vegetable Mould through the Action of Worms, with Observations of their Habits“ (deutsch: „Die Bildung der Ackererde durch die Thätigkeit der Würmer”), das von Biologen und Bodenkundlern als Grundlagenwerk der Bodenbiologie gewürdigt wird (vgl. GRAFF 1983, S. 30/31).https://hypersoil.uni-muenster.de/1/02/49.htm

Darwin sollte, nachdem er von seiner mehrjährigen Reise mit der Beagle zurückgekehrt war, England nie mehr verlassen. Doch auch das Leben der hier heimischen Lebewesen ist Teil einer universalen Naturgeschichte. So beobachtete Darwin seine unmittelbare Umgebung und studierte die Evolution sozusagen im eigenen Garten, wobei der englische Regen seinen Studien zugute kam.

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Wenn der stille, gehörlose, lediglich leicht schmatzende Regenwurm (wissenschaftlicher Name: Lumbricus terrestris) auch im Erd-Reich verschwindet, kommt er dennoch immer wieder ans Licht, dann nämlich, wenn es regnet und er in seinen unterirdischen Höhlen und Gängen zu ertrinken droht. Jetzt aber begegnet er einem Tier, das nicht nur Regen mag.

Die Regenwürmer haben einen Fressfeind, den ich zum Lauschen gerne hab. Singvögel, die im Laufe der Evolution komplexe Melodien entwickelt haben, existieren seit 33 Millionen Jahren. Wir Menschen lauschen ihnen nicht nur, sondern ahmen seit jeher ihren Gesang nach. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass wir unsere Liebeslieder auch den Regenwürmern verdanken.

Amsel

Drossel, Fink

und Star, unsere

Liebeslieder waren vor uns

da

Sommer 2022: Dieses Amselmännchen widersteht dem Impuls, die Rosine direkt zu verzehren. Es wartet so lange, bis das Jungtier auch eine Rosine aufgepickt hat. Dieser “Ästling” wurde schon als “Nestling” mit (ungeschwefelten) Rosinen gefüttert, die wir auf die Terrasse gestreut hatten, deshalb mag er sie sehr. Im letzten Sommer habe ich mehrmals beobachtet, wie das fütternde Amselmännchen zusätzlich zum Regenwurm, den es im Schnabel hatte, noch Rosinen aufgepickt hat. Ein Balanceakt!

Dieses Jungtier hat zwar vor etwa zwei Wochen das Nest verlassen, braucht seine Eltern aber immer noch. Doch mittlerweile kriegt es das Futter nicht mehr einfach so in den offenen Schnabel gestopft. Her zeigt ihm sein Vater, wie eine Amsel es macht.

Wenn eine Jung-Amsel eigenständig ist, verlöscht das Interesse der Eltern an ihr. Dennoch werden die Eltern wieder Eltern sein und in Zukunft wieder gemeinsam brüten. Amseln leben überwiegend monogam und bleiben über mehrere Brutperioden zusammen. Die Jung-Amsel ist Vater und Mutter gleichermaßen zugeneigt. Bei uns Menschen ist das anders. Da die Mutter das Kind austrägt, zur Welt bringt und stillt, ist im Idealfall die körperliche Symbiose zwischen Mutter und Kind so tief, wie sie zwischen Vater und Kind nie sein kann – und auch nie sein sollte.

Elfchen im Zwölften: Der Weihnachtsmann der DEUTSCHEN BAHN beschenkt Nippeser Pänz!

Im September hatte ich über das Bau-Vorhaben der Deutschen Bahn in Köln-Nippes berichtet. Die Pläne der BAHN sind so brutal und lebensfeindlich, dass sie uns irreal erscheinen. Wir Menschen, die in der Nähe der Nippeser S-Bahn leben, können und wollen nicht glauben, dass die Vertreter der BAHN es nicht gut mit uns meinen. Von einem Privatunternehmen erwartet man profitorientiertes Kalkül, aber die Deutsche Bahn ist kein Privatunternehmen, sondern ein bundeseigener “Mobilitäts- und Transportkonzern”, der der Bundesrepublik Deutschland gehört, also sozusagen uns allen.

Die Bahn weckt nostalgische Gefühle in uns, denn sie ist Teil unserer Kindheit: “Zuch zuch zuch zuch Eisenbahn, wer will mit nach Kölle fahr’n? Kölle ist geschlossen, Schlüssel ist gebrochen…” Dieses kleine Lied habe ich Anfang der 1960er Jahre im Kindergarten gesungen. Es weckte meine Neugier auf Kölle und ist -so bekloppt sich das anhört- nicht ganz unschuldig daran, dass ich seit 1977 hier lebe. Das Lied gibt es noch heute, allerdings in freundlicheren Versionen ohne gebrochenen Schlüssel. Meine Kinder haben es vor zwanzig Jahren so gesungen: “Tuff tuff tuff tuff Eisenbahn, wer will mit in’ Urlaub fahr’n? Alleine reisen mag ich nicht, da nehm’ ich mir die Oma mit…

Nebenbei gesagt: Kindische Männer singen das Liedchen auch noch, wenn sie erwachsen sind, dann aber eher in der albernen Blödelversion von Wigald Boning und Olli Dittrich (“Die Doofen”): “Tuff, Tuff, Tuff ( Wir fahren in den Puff )” https://www.youtube.com/watch?v=ctmlV2ZzelQ, einer Art Vorläufer-Liedchen des diesjährigen Ballermann-Tophits Layla.

Doch der aktuelle Plan der Deutschen Bahn ist, was Köln-Nippes angeht, nicht einmal mehr schön blöd, sondern gar nicht mehr schön, denn was man uns androht, ist der “Bau eines Zuführungsgleises und damit einhergehend die Zerstörung großer Teile des letzten Grüns diesseits der S-Bahn-Linie, eine jahrelange Großbaustelle in unmittelbarer Siedlungsnähe und -nach Beendigung der Bauarbeiten- ein stetiger nächtlicher S-Bahn-Verkehr („Geisterzüge“).https://stellwerk60.com/2022/09/27/elfchen-im-neunten-liebe-laermschutzriegel-bewohnende/

Mitglieder des Vereins Nachbarn 60 der autofreien Siedlung hatten -wie berichtet- Ende Juli eine Arbeitsgruppe gebildet, um eine gemeinsame Einwendung zu formulieren und Unterschriften gegen den Ausbau zu sammeln. Wir -ich war mit dabei- standen nicht nur unter leichtem Schock, sondern unter ziemlichem Zeitdruck, denn der Abgabetermin bei der Bezirksregierung war der 15.8.2022. Wir hatten erst spät realisiert, dass ein erneutes Planfeststellungsverfahren läuft, denn erst durch Mails und Aushänge der Anwohnergemeinschaft Nippes (AWG) waren wir (mitten in den NRW-Sommerferien, aber gerade noch rechtzeitig!) wachgerüttelt worden. https://www.awg-nippes.de/grossbaustelle-bahn-in-koeln-nippes-verfahren-geht-wieder-los-einwendungen-bis-15-08-2022-moeglich/

Wir machten die Erfahrung, dass es sehr schwer es ist, eine Nachricht innerhalb der ganzen Siedlung zu verbreiten, noch dazu eine höchst unangenehme. Die Mitglieder des Vereins Nachbarn60 sind zwar über einen Mail-Verteiler miteinander verbunden, aber nicht alle Bewohner sind im Nachbarschaftsverein. Viele Nachbarn konnten und wollten die Sache nicht ernst nehmen. Auch ich hätte mich gerne doof gestellt, was mir aber mit zunehmendem Alter kaum noch gelingt. Dennoch schafften wir es, unsere gemeinsame Einwendung noch rechtzeitig abzugeben und allein in der autofreien Siedlung 280 Unterschriften zu sammeln, was etwa 20% aller Bewohnerinnen und Bewohner entspricht.

Weder die Stadt Köln noch Die Bahn ist einer Informations- oder Aufklärungspflicht nachgekommen- weil es so etwas nicht gibt. Wir waren ahnungslos und sollten es bleiben. Aus “gutem” Grund sind Stadt und Bahn offenbar nicht daran interessiert, die Menschen aufzuklären, zu informieren und in die Planungen mit einzubeziehen. Obwohl (oder weil?) der Bau des Zuführungsgleises ein massiver Einschnitt wäre und obwohl (oder weil?) es menschenfreundlichere, wenn auch teurere Alternativen gibt, will man keine Einwände hören, vor allem kein klares NEIN. Man tut so, als würde uns unmittelbar Betroffene die Angelegenheit nichts angehen. Mit dem vielbeschworenen demokratischen Dialog hat das nichts mehr zu tun.

Darüberhinaus unterliegen mögliche Einwände einer bürokratisch verklausulierten Widerspruchs-Logik, die eigentlich unlogisch ist: Wer sich nicht bis zum 15.8.2022 formal korrekt ausdrücklich gegen das Zuführungsgleis ausgesprochen hat, ist rein rechtlich dafür. Mit anderen Worten: Später kann man zwar sagen, man sei gegen den Gleisbau gewesen, aber juristisch ist das belanglos. Zum Beispiel können Haus- und Wohnungsbesitzer, die sich nicht bis zum 15.8.2022 formal korrekt ausdrücklich gegen das Zuführungsgleis ausgesprochen haben, später nicht mehr die zu erwartende Wertminderung ihrer Immobilie einklagen. Doch wie soll man Widerspruch einlegen gegen ein Vorhaben, über das man nicht einmal informiert wurde? Das ist grotesk und zutiefst undemokratisch.

Nun ist das aktuelle Nippeser Planfeststellungsverfahren (in dessen Rahmen man derzeit die Einwände prüft) nicht das erste. Die Deutsche Bahn musste seit 2007 bereits mehrmals “nachbessern”, vor allem, was die Höhe der geplanten Lärmschutzwände angeht, denn der zu erwartende Bahnlärm wäre enorm. Ich habe noch einmal woanders hingeguckt, nicht auf die Höhe, sondern auf die Länge der zu erwartenden Lärmschutzwände.

Hier offenbart sich die tragikomische Seite sogenannter “Lärmschutz-Maßnahmen”. Was uns nämlich zusätzlich zum Zuführungsgleis droht, ist ein völlig unzureichendes und noch dazu potthässliches Lärmschutz-Ungetüm, eine “Neu-Nippeser Mauer” mit einer Höhe von zwei bis vier bzw. sechs Metern. Unter dem Vorwand, uns schützen zu wollen, sollen die “Lärmschutzwände” lang ausfallen, sehr lang, sehr sehr lang. Was die Länge betrifft, muss die Bahn nicht einmal mehr nachbessern. Westlich der Gleisanlagen (dem Stadtteil Bilderstöckchen zugewandt) wäre, so hat man errechnet, eine Lärmschutzwand mit rund 430 m Länge erforderlich. Östlich der Gleisanlagen (Nippes und den Eisenbahner-Siedlungen zugewandt) plant man im Bereich des Zuführungsgleises drei Lärmschutzwände. Die eine hat eine Länge von knapp 290 m, eine zweite soll 640 Meter lang sein und eine weitere rund 425 m. Wenn ich mich nicht verrechnet habe, sind das insgesamt 1355 Lärmschutzmeter. Will man Lärmschutz-Rekorde brechen?

Abgesehen davon, dass die Bewohner oberer Stockwerke (insbesondere der Mehrfamilienhäuser “Am Ausbesserungswerk”) den Bahnlärm nach Fertigstellung der Gleisanlage auch bei einer Höhe von sechs Metern mit voller Wucht abkriegen würden, bedeutet eine 1355 Meter lange Lärmschutzwand einen erheblichen Eingriff in die Integrität des ohnehin schon schwer in Mitleidenschaft gezogenen Lebensraums aller hier beheimateter Lebewesen.

Um zu verdeutlichen, wie monströs die “Neu-Nippeser Mauer” wäre, veröffentliche ich hier noch einmal die Gegenüberstellung zweier Fotos aus meinem oben erwähnten Blog-Beitrag vom 27.9.2022. Wer in die Fotomontage der AWG (rechtes Bild) noch zusätzlich zur Bahn eine Lärmschutzwand hinein imaginiert, kann sich vielleicht vorstellen, wie irrwitzig die Pläne der Deutschen Bahn sind: Noch vor dem Zuführungsgleis soll in einer Länge von 425 Metern eine in diesem Bereich sechs Meter hohe “Lärmschutzwand” errichtet werden.

Kürzlich habe ich den Bereich “Am Ausbesserungswerk” noch einmal von der anderen, der Südseite aus fotografiert. In den schmalen Streifen zwischen bestehender Bahntrasse und Fußweg sollen zwei Gleise (denn hier ist das Zuführungsgleis zum Zwecke quetschender nächtlicher Wendemanöver zweigleisig geplant!) und die Lärmschutzwand nebeneinander hineingebaut werden.

Sooo deutsch ist eine bestehende Schilder-Allee: Aktuell weisen, ordentlich aufgereiht, insgesamt 15 rot umrahmte Schilder darauf hin, dass man für die Feuerwehr Platz lassen soll. Für die gäbe es allerdings -so hat man errechnet-, würde das Zuführungs-Gleis gebaut, kein ordnungsgemäßes Durchkommen mehr.

Ergänzung Juni 2023: Wie es nach einer Nacht- und Nebel- Aktion (“prophylaktischer Kahlschlag”) im Frühjahr 2022 hier bzw. wenige wenige hundert Meter weiter aussah, hat Bernd Schöneck vom Kölner Stadtanzeiger in einem Artikel vom 10.3.2022 festgehalten. https://www.ksta.de/koeln/nippes/koeln-nippes-baeume-am-bahndamm-gerodet-anwohner-ensetzt-159449

Male ich mir all das aus, fühle ich mich in keiner Weise geschützt, sondern der Willkür der Deutschen Bahn schutzlos ausgeliefert. Es ist, als seien wir Menschen kleine Spielfigürchen, vergleichbar mit denen, die jedermann beim Modellbau-Anbieter Faller bestellen kann. E

Apropos Faller: Der Weihnachtsmann der Deutschen Bahn hat -so wurde mir erzählt- auch in diesem Jahr in ganz Köln Geschenke verteilt. Aber die wirklich hochwertigen Geschenke, so soll der Weihnachtsmann der Deutschen Bahn augenzwinkernd betont haben, die gab es exklusiv für die Pänz aus Köln-Nippes.

Der

Weihnachtsmann der

BAHN kam nicht

mit leeren Händen, sondern…

Faller-Lämschutzwänden!

Bildschirmfoto 2022-12-26 um 17.40.56

Eine Lärmschutzwand im Mini-Format. Bestimmte Produkte sind laut Faller für Kinder unter drei Jahren wegen verschluckbarer Kleinteile nicht geeignet. Diese Faller-Lärmschutzwand ist ungefährlich für Kinder unter drei, könnte aber Kindern über drei Jahren Lust machen auf reale Kletterpartien. Meines Wissens fehlt bei dem Produkt der Zusatz “nicht geeignet unter 14 Jahren”. Wo er nicht fehlt, das sind die Faller-Strommasten, die man ebenfalls bestellen kann und die sich wunderbar mit der Lärmschutzwand kombinieren lassen. Abenteuerlustige Kinder bekommen sehr schnell heraus, dass sich Faller-Lärmschutzwände mit Faller-Figürchen beklettern lassen. Was die echten Lärmschutzwände betrifft: Da wird weiterhin “nachgebessert”, was die Höhe betrifft. Das freut die waghalsigen Kinder, denn Lärmschutzwände probiert aus, wem es im Frechener Chimpanzodrome zu langweilig ist.

“Der Populismus fährt Fahrrad”- Eine Begegnung mit der Frau Keuner

“Tach”, sacht meine Nachbarin, die Freu Keuner.

“Tach auch”, sach ich. Wir sind an der KiTa Lummerland verabredet. Die Frau Keuner hat mich angerufen und darum gebeten, in der Nähe der KiTa ein paar Fotos von ihr zu machen, und mein Fahrrad soll ich mitbringen. Jetzt steht sie da, hält die Griffe des Rollators umklammert und mustert mich grinsend.

“Fotos von mir?”, sagt die Frau Keuner. “Dat dachtest du dir so. Ich seh mit Ende 60 zwar immer noch besser aus als du mit knapp Mitte, aber dat muss ja nich sein.”

“Aber, aber”, stammele ich. “Sie haben mich doch darum gebeten. Das war Ihre Idee. Ich meine, ich sollte Sie doch fotografieren.”

“Du lässt dir aber auch alles erzählen”, sagt die Frau Keuner und lacht breit. “Aber ne wirklich schicke Frisur.”

“Danke”, sage ich. “Aber ich war seit zweieinhalb Jahren nicht mehr beim Frisör.”

“Dat sieht man”, lacht die Frau Keuner. “Deine Haare sehen aus wie n oller Wischmopp. Ich meinte dein Fahrrad. Wenn Männer ihre Fahrzeuge frisieren, dann motzen die die technisch auf. Aber wenn Frauen ihre Fahrräder frisieren, dann schmücken sie die Körbe mit Blömscher. Aus Kunststoff. Hömma Lisa, du hast Kunststoff-Blumen gekauft.”

“Ich, ich… Ich hatte die noch.”

“Ja, ja”, sagt die Frau Keuner. “Und du dachtest wohl, ich würde mich auf dein Fahrrad setzen. Wie soll dat wohl gehen mit meiner kaputten Hüfte? Außerdem hab ich nicht die Top-Figur, die der Joe Biden immer noch hat. Der Joe hat ja im Juni an seinem 45. Hochzeitstag mit der Jill zusammen eine Radtour gemacht, bei sich zu Hause in Delaware. Dabei trug er diese kurze Hose, die er seit 40 Jahren im Schrank hat. Ich sach dir, vielleicht ist der im Kopf nicht mehr klar, wenn er das jemals war. Ich meine, der Mann ist ja schwer traumatisiert. Joe Biden macht eine furchtbare Kriegs- und Coronapolitik, aber körperlich gibt er immer noch eine Top-Figur ab. Sogar in der ollen Buxe.”

Die Frau Keuner holt eine Wasserflasche aus dem Netz. “Ich krieg die Pulle nicht auf. Hast du noch Kraft in der Hand?”

Sie hat einen verdammt wunden Punkt erwischt, aber ich schnapp mir die Flasche. Zum Glück lässt sich der Drehverschluss leicht öffnen. “War halb so schwer”, sage ich.

“War ja eh schon auf”, sagt die Frau Keuner und lacht.

Sie beruhigt sich langsam und nimmt einen Schluck Wasser. “Zurück zu Joe Biden. Wat ja an den Männern definitiv schöner ist als an den Frauen, dat sind die Beine. Keine Cellulitis. Und der Joe Biden, der hat noch richtig schöne Beine. Dat wüsste ich nicht, wenn er auf seiner Radtour nicht mit dem Fahrrad umgekippt wär. Die Bilder gingen ja um die Welt. Ich hab mir dat bei Youtube angeguckt. Also… Die Radfahrergruppe kommt ins Bild, bissken steif dat Ganze, aber egal… Die Gruppe fährt auf eine Weggabelung zu, an der schon die Kameras bereit stehen. Jill und die anderen biegen ab, aber Joe fährt geradeaus weiter, weil am Straßenrand die Presseleute auf ihn warten. Joe trägt zu seiner Sicherheit einen Helm, doch der Sicherheitsmann, der hinter ihm fährt, trägt zu Joe’s Sicherheit keinen, weil so ein Helm beim Personenschutz hinderlich ist. Kannst du mir noch folgen?” Ich nicke nur.

“Also”, fährt die Frau Keuner fort. “Joe kommt bei den Journalisten an, bremst und setzt den Fuß auf den Boden, den linken Fuß. Joe steht, und jetzt erst kippt er um, denn er kriegt den rechten Fuß nicht aus der Pedal-Schlaufe. Joe verliert das Gleichgewicht. So was passiert, ältere Menschen kippen schnell um, geht mir auch so. Und der Biden muss das Gefühl gehabt haben, dass er bei den Journalisten in Sicherheit ist, dass er sich fallen lassen kann. Doch da hat er sich verschätzt. Denn jetzt kommt der eigentliche Skandal… Niemand fängt Joe auf, die stehen da doof rum. War so nicht geplant. Aber anstatt den Joe festzuhalten, halten die Journalisten ihre Kameras fest, um zu filmen, wie der umkippt, weil niemand ihn festhält. Früher waren die berühmten Leute schlauer, da haben die sich vor den Paparazzi in Sicherheit gebracht und sind nicht noch auf die zu.”

Die Frau Keuner trinkt noch einen Schluck Wasser und packt dann die Flasche weg. “Der Joe ist schneller wieder auf die Beine gekommen, als ich gucken konnte. Und du, Lisa, du bist 16 Jahre jünger als Joe, aber du siehst auf dem Rad lange nicht so gut aus wie der. Du kannst ja nicht einmal mehr einhändig fahren. Ich hab dich letztens beobachtet, wie du mit der linken Hand dat alte Nokia-Teil ans Ohr gehalten hast und fast einen Pfosten touchiert hättest.”

Ich guck die Frau Keuner fragend an. “Wo soll das gewesen sein?”

“Wagenhallenstraße Richtung Wartburgplatz. Das kann teuer werden, auch in der Füßgängerzone. Du kannst so was von froh sein, dass du nicht prominent bist. Wenn man prominent ist, sitzt immer eine von diesen Medien-Petzen im Gebüsch und wartet darauf, dass man einen Fehler macht. Hömma, Lisa, du warst ja nie besonders sportlich, aber dat war dermaßen ungelenk.” Jetzt lacht sie dreckig.

Ich bin machtlos und in dieser Kleine-Schwester-Schockstarre. Ich kann mich nicht wehren, denn ich bewundere die Frau Keuner, wie ich kleines Mädchen meine große Schwester bewundert habe, so fies die auch manchmal war. Meine große Schwester hat es immer wieder geschafft, mich zum Heulen zu bringen. Sie konnte schon lesen, als ich noch nicht einmal in der Lage war, die Bilderbücher richtigrum aufzuklappen. Meine große Schwester, das war so eine, die schon bis über tausend zählen konnte, während ich drei Finger abspreizen musste, um zu zeigen, dass ich drei Jahre alt war.

“Hömma, Lisa”, sagt die Frau Keuner, “jetzt stellst du dein Fahrrad an genau die Stelle, die ich dir sach. Wir machen ein paar Fotos, und diese Fotos stellst du als Dia-Show in deinen Blog. Dein letzter Blog-Beitrag über das Zuführungsgleis war ja nicht übel, aber da fehlt was.”

“Wieso?”, frage ich leise. “Was hab ich denn jetzt wieder falsch gemacht?”

“Da fehlt der Jochen Ott, unser SPD-Landtagsabgeordneter. Der Ott is ja unser Nachbar, der wohnt zwar nich in der autofreien Siedlung, aber in der daneben, mit Tiefgarage, aber auch direkt anner S-Bahn… Der Ott ist für das Zuführungsgleis, zumindest ist er nicht dagegen. Man kann aber nur für das Gleis sein, wenn man selber lärmgeschützt wohnt, und das tut er, der Ott hat nämlich sein schmuckes Reihenhäusken mitten in der bewohnten Lärmschutztrutzburg.”

“Lärmschutztrutzburg”?

“Jau”, sacht die Frau Keuner, “der bewohnte Lärmschutzriegel geht nämlich noch umme Ecke. Du sitzt doch den ganzen Tach am Rechner. Gib da mal “Am Ausbesserungswerk Köln” ein. Da guckst du dann von oben drauf, und mit ein bisschen Phantasie erkennst du die Hintergedanken der Bauplaner. Die haben schon vor dem Bau der Siedlungen das Zuführungsgleis eingeplant – und den Lärm, den das macht. Falls das Gleis gebaut wird, bilden die Häuser “Am Ausbesserungswerk” die bewohnte Mauer einer Lärmschutz-Trutzburg, und die Mieter, die in den Mauern der Trutzburg wohnen, sind menschliche Lärmschutzschilder.”

“Das kann man doch so nicht sagen!”

“Oh doch, die Mieter schützen die Reihenhaus-Besitzer, denn die Menschen, die “Am Ausbesserungswerk” zur wohnen, kriegen den Lärm ab, aber wohnen Leuten wie dem Ott den Lärm fott. Sozial gerecht ist das nicht. Und wenn dann das Zuführungsgleis gebaut wird, sitzt der Ott im Lärmschatten der bewohnten Mauer in seinem Reihenhausgarten und füttert den Hund. Und wie ich ihn kenne, füttert er seinen Hund aus Kostengründen mit den aufgetauten Resten von Kochen mit Jochen. Da guckst du. Kochen mit Jochen war eine Werbeaktion im Landtags-Wahlkampf 2010. Da hat der Ott noch auf der Schäl Sick kandidiert und mit Kindern und Jugendlichen zusammen gekocht, und zwar in Jugendeinrichtungen. Afrikanisch, italienisch, international, politisch absolut korrekt. Kochen mit Jochen würde in Nippes nicht ankommen. Aber der Mann ist schon lustig. Seinen Wahlkampf-Podcast zum Thema Schule hatte der Ott Ottcast genannt. Is dat nich süß? Da fehlt nur noch der Jottifant.”

“Frau Keuner, ich komm jetzt nicht mehr mit.”

“Is ja nix Neues”, lacht die Frau Keuner. “Du bist eben ein bisschen langsam im Kopp. Aber nochmal zum Ott. Das ist wie beim Olaf Scholz. Nur weil seine Partei die SPD ist, meinen die Leute, er hätte Ähnlichkeit mit Johannes Rau oder Willy Brandt. Mädchen, die hat er nicht. Der Ott war mal Oberstudienrat, und ich sach dir, dat bleibt. Der Ott ist ein Berufspolitiker, der sich einen Top-Job mit Super-Rentenerwartung geangelt hat. Guck dir mal die Internetseite an. Was macht für Jochen Ott Wohnen aus? Dass es “bezahlbar” ist. Hört sich gut an. Doch abgesehen davon, dass die Nippeser Mieten extrem gestiegen sind: Was hat man von bezahlbarem Wohnraum, wenn im Schrank die Teller wackeln, weil die S-Bahn vorbeifährt? Und zwar jetzt schon. Was hat man von einer Wohnung im beliebten Veedel, wenn jetzt schon ständig die Fenster geputzt werden müssen? Flugrost, Feinstaub, Ruß. Wenn Wahlkampf ist, wird der Ott aktiv, da zeigt er sich, da geht er strahlend über den Nippeser Markt. Und jetzt? Grimmig. Total verschlossen. Wenn kein Wahlkampf is, hört man nix mehr von ihm. Und jetzt stell dein Fahrrad genau da hin, wo der Ott seins für das Wahlplakat platziert hat.” Die Frau Keuner zeigt mir die Stelle.

“Erinnerst du dich nicht an das Wahlplakat? Davon hast du mir doch das Foto geschickt. Vor der Landtags-Wahl hingen hier doch überall diese Werbeplakate. Nur so kleine für Radfahrer und Fußgänger, aber trotzdem ärgerlich, weil die Sprüche von Wahl zu Wahl dümmer werden. Wat stand unterm Ott? “MOTIVIEREN. MITNEHMEN. EINFACH MACHEN.” Wat soll dat, wer soll wozu motiviert werden, wohin mitgenommen, und wat soll einfach gemacht werden? Und dann noch dreimal das “M”, das die Kölschen immer an die Spitzen vom Dom erinnert. Mann, Macht, Muskeln… Das darf doch alles nicht wahr sein…”

“Ist Ihnen nicht gut?” frage ich leise, denn die Frau Keuner ist plötzlich ganz blass geworden.

“Schon gut”, sagt die Frau Keuner, “aber ich kann die politischen Knallköppe manchmal nicht mehr ertragen. Die tun so, als wäre alles wie immer. ” Sie atmet tief, macht eine kleine Trinkpause und redet gottseidank weiter. “Hömma, ich hab mir überlegt, wo in Köln das Foto mit dem Ott aufgenommen ist. Ich dachte, in einer weitläufigen Parklandschaft, vielleicht im Stadtwald. Dann hab ich genauer hingeguckt, und auf einmal kam mir alles bekannt vor. Hömma, dat spielt genau hier, wo wir stehen. Mit Blick auf die große Wiese zwischen den beiden Eisenbahnersiedlungen, zwischen der autofreien Siedlung und der Hohr-Siedlung, auf das grüne Zwischen-Stück, das sie nicht bebaut haben. Im Hintergrund sieht man die Bahntrasse. Der Ott präsentiert uns sein Fahrrad. So macht man sich bei den Leuten in der autofreien Siedlung beliebt. Der Populismus fährt Fahrrad. Aber den Wahlkreis hat dann doch der Arndt Klocke von den GRÜNEN geholt. Der Ott kommt hier im Viertel nicht besonders gut an.”

Jetzt singt die Frau Keuner auch noch. “Ja so blau, blau, blau ist der Jochen Ott, ach wat is der flott, ach wat is der flott… Es gibt da einen alten Trick, der Fotograf hat sich hingekniet und den Ott von unten fotografiert, damit er so richtig groß und mächtig ins Bild kütt. Stattlich ist er ja schon, aber so raumeinnehmend. Ich hab hab ja nichts dagegen, wenn die Männer raumeinnehmend sind, aber nicht so und schon gar nicht im öffentlichen Raum, du verstehst schon. Hömma, jetzt bist du rot geworden, Lisa. Findest du doch auch gut, wenn die Männer…”

“Unsinn!”

“Schon gut”, sagt die Frau Keuner. “Aber jetzt mach schon. Du kniest dich jetzt aber nicht hin, Lisa. Ich trau dir zwar zu, dass du wieder hoch kommst, aber mach die Fotos bitte im Stehen, denn man will ja noch wat vonner Landschaft sehen. Und wat fällt dir an dem Wahlplakat noch auf?” Ich zucke die Achseln.

“Der Fotograf hat das Ausbesserungswerk abgeschnitten”, sagt die Frau Keuner. “Vielleicht wollte es der Ott so. Deshalb klebst du in deiner Diashow das Stück wieder dran. Mach mit deiner kleinen ollen Kamera einfach einen Schwenk, damit die Südseite vonner Lärmschutztrutzburg draufkommt. Fotografier die Balkone, aber auch die Lüftungsöffnungen vonner Tiefgarage. Mach schon.”

Diese Diashow benötigt JavaScript.

“Gut so”, kommentiert die Frau Keuner die Fotos. “Aber da is noch wat. Auf seiner Internetseite schreibt der Ott, dass er 60-70 Stunden in der Woche arbeitet. Wie konnte es da passieren, dass er vor sieben Jahren einen richtig guten Vorstoß der NRW-Landesregierung verpasst hat?” Sie macht eine Pause, schließt die Augen und atmet tief durch.

“Jetzt muss ich mich konzentrieren, damit ich das noch zusammenkriege”, sagt die Frau Keuner. “Also… Da haben verschiedene Bundesländer ein Eckpunktepapier zum Thema Bahn-Lärm vereinbart. Und unser damaliger grüner NRW-Umweltminister Johannes Remmel hat die Bundesregierung aufgefordert, die Menschen besser vor Bahnlärm zu schützen und das in der Verkehrslärmschutzverordnung zu verankern. Der Bund hat leider nicht entsprechend reagiert, da is nix verankert, obwohl die Faktenlage eindeutig ist. Bahnlärm ist extrem gesundheitsgefährdend. Ich schick dir den Link. Is ganz einfach zu finden, denn die Pressemitteilung steht immer noch auf der offiziellen NRW-Internetseite.”

https://www.land.nrw/pressemitteilung/minister-remmel-bahnlaerm-macht-die-menschen-krank

“Aber der Ott war doch vor sieben Jahren in der Kommunalpolitik aktiv”, sage ich.

“Nicht nur”, sagt die Frau Keuner. “Der war auch im Landtag. Und die Pressemitteilung der NRW-Landesregierung ist vom 9. Juni 2015. Die kennt der. Nur war da gerade Oberbürgermeister-Wahlkampf. Weißt du noch? Der Ott ist doch gegen die Henriette Reker angetreten. Und ich sach dir, weil nur vier Monate später Wahl war, hatte der Ott keinen Bock, nach Düsseldorf zu fahren. Aber jetzt müsste er endlich aktiv werden. Die Herzen der Nippeser gewinnt man nicht beim “Kochen mit Jochen”, nicht mit Spaghetti Bolognese, sondern indem man sich für das Wohlergehen der Menschen einsetzt. Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: MDL Jochen Ott (SPD) solidarisiert sich mit den Kölner Bürgerinnen und Bürgern gegen die menschenfeindlichen Pläne der DEUTSCHEN BAHN. Aber jetzt kann ich nicht mehr länger rumstehen.”

Die Frau Keuner macht ein paar Schritte und redet dann weiter. “Mach bitte noch ein letztes Foto, Lisa. Stell dich auf den Weg vor der sonnenbeschienenen Südseite des Ausbesserungswerks und fotografier die Wiese, aber sieh zu, dass du ein paar von den 13 Bäumchen draufkriegst, die die Stadt Köln in diesem Jahr neu gepflanzt hat… Die Menschen, die auf der Südseite der Lärmschutztrutzburg wohnen, haben schöne große Balkone. Da füttern sie die stolzen Halsbandsittiche, die sich in den letzten Jahren prächtig vermehrt haben. Ich freu mich so sehr, dass den Papageienvögeln in den milden Wintern die Krallen nicht mehr abfrieren. Es ist mir ein Trost, wo es schon keinen Schnee mehr gibt… Und weil sich der Bahnlärm noch in Grenzen hält, können die Leute im Sommer auf den Balkonen sitzen und Spaß haben an den Fledermäusen, die genau da nisten, wo das Gleis hinkommen soll. So einen freien Blick hat der Ott nicht. Dat nenne ich soziale Gerechtigkeit. Der Ott hört zwar den Bahnlärm kaum, aber dafür guckt er nicht in die Weite, nur auf Häuser… Wir müssen dafür sorgen, dass das Zuführungsgleis niemals gebaut wird. Schon wegen der Fledermäuse.”

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Elfchen im Neunten: Liebe Lärmschutzriegel-Bewohnende

Vor gut 20 Jahren hat man damit begonnen, das innenstadtnahe Gelände der ehemaligen Köln-Nippeser Eisenbahn-Ausbesserungsanlage mit Wohnhäusern zu bebauen, mit Mehrfamilien-, aber auch mit Einfamilienreihenhäusern. Nach Abschluss der Bauarbeiten leben hier insgesamt über 5000 Menschen, etwa 1500 davon in der autofreien Siedlung Stellwerk 60.

Die autofreie Siedlung liegt genau in der Mitte des bebauten Areals. Was die Siedlung auszeichnet, ist, dass sie wirklich eine ist. Unser großer gemeinsamer Nenner ist eine mehr oder weniger ausgeprägte Skepsis gegenüber dem Auto. Dass die nachbarschaftliche Kooperation über den Gartenplausch hinaus gelingt, ist vor allem dem Nachbarschaftsverein Nachbarn 60 zu verdanken, dessen aktive Mitglieder seit mittlerweile 15 Jahren unermüdlich organisieren, koordinieren, anleiern, Ideen entwickeln und überhaupt viel Arbeit in das Projekt stecken. Der Gemeinschaftsgarten muss gepflegt werden, die Kettcars, Tandems, Einräder, Biertische und Transportkarren, die alle Vereinsmitglieder in der Mobilitätsstation (“Mobi”) kostenlos ausleihen können, müssen regelmäßig gewartet werden, junge Bäume gegossen, Flohmarkt, Sommerfest und Lebendiger Adventskalender organisiert werden u.u.u….

Das Besondere an Stellwerk 60 ist die Familien- und Kinderfreundlichkeit. Die Kinder stören sich nicht daran, dass die Siedlung dicht bebaut ist. Auch die geringe Breite der Reihenhäuser (oft weniger als fünf Meter), die vielen Erwachsenen die Luft zum Atmen nimmt, vor allem dann, wenn man den Nachbarn nicht riechen kann, ist ganz nach dem Geschmack von Kindern. Wo in der Siedlung sie auch wohnen: Die Kinder gehen raus und treffen Kinder. Ihr Draußen wird nicht durch parkende Autos verstopft. Die asphaltierten “Hauptstraßen”, die nur von Müllabfuhr und Notarztwagen befahren werden dürfen, laden ein zum Rollschuhlaufen, Einradfahren, Skateboarden, der autofreie Raum zum Spielen, Raufen und Austoben. Wo Kinder sind, gibt es kein Abstandhalten.

Manchmal bin ich ziemlich genervt, wenn ich einem großen Kettcar ausweichen muss, auf dem fünf kreischende Kinder sitzen. Aber dann erinnere ich mich an die “Pandemie” mit ihren volkserzieherischen “Sicherheits”-Maßnahmen, ich erinnere mich daran, wie gespenstisch still es selbst in der autofreien Siedlung war, als die Kinder, denen das Virus nie viel anhaben konnte, zu einer Art soldatischem Gehorsam gezwungen wurden, als sie sich nicht einmal zu Hause mit mehreren Freunden treffen konnten, nicht einmal die Kettcars ausleihen und kaum Spaß haben durften. Und wenn ich mir klarmache, wie autoritär, wie lust- und lebensfeindlich die “Gesundheitsschutz”- Maßnahmen waren (und zum Teil noch sind!), dann bin ich erleichtert, dass die Kinder nicht verstummt sind – und kann ihr Gekreische ertragen. Ach was, ich freue mich daran!

Ein Archivfoto aus dem Jahr 2016:

Besuch des Koreanischen Fernsehens in der autofreien Siedlung Stellwerk 60. Die beiden, die hier -gesittet und ohne zu kreischen- auf dem Kettcar sitzen, sind Filmemacherin Chi-Suk Kim und Siedlungs-“Bürgermeister” Hans-Georg Kleinmann; Foto: Nachbarn60.  https://stellwerk60.com/2016/07/17/der-film-ist-da-stellwerk-60-im-koreanischen-tv/

Es ist abwechslungsreich und angenehm, in der autofreien Siedlung zu leben – wenn nur die Bahn nicht so nah wäre. Natürlich ist es grundsätzlich vorteilhaft, in der Nähe zweier S-Bahnhöfe zu wohnen. Auch hält sich die Lärmbelastung innerhalb der autofreien Siedlung in Grenzen. Doch was den Bewohnerinnen und Bewohnern nicht nur von Stellwerk 60, sondern aller Nippeser Siedlungen zwischen den S-Bahnhöfen Nippes und Geldernstraße droht, ist nicht mehr angenehm, sondern so alptraumhaft, dass man es kaum glauben kann. Wie viele andere hatte auch ich versucht zu verdrängen, was uns seit Jahren “nur” droht, jetzt aber real werden könnte: Der Bau eines Zuführungsgleises und damit einhergehend die Zerstörung großer Teile des letzten Grüns diesseits der S-Bahn-Linie, eine jahrelange Großbaustelle in unmittelbarer Siedlungsnähe und -nach Beendigung der Bauarbeiten- ein stetiger nächtlicher S-Bahn-Verkehr (“Geisterzüge”).

Die Pläne der DB für das Zuführungsgleis sind nicht neu, und die entsprechenden “Planfeststellungsverfahren” laufen schon seit 2007. Wegen zahlreicher Einwendungen und erheblicher Bedenken, vor allem wegen des zu erwartenden Lärms, musste die Bahn ihre Pläne bereits mehrere Mal aktualisieren. Dass die Deutsche Bahn ihr Vorhaben noch nicht hat durchsetzen können und weiterhin “nachbessern” muss, ist insbesondere der Anwohnergemeinschaft Nippes (AWG) zu verdanken, deren Mitglieder über die Jahre hinweg das Vorhaben nicht verdrängt, sondern sich der Bedrohung gestellt haben. Bei allen “Planfeststellungsverfahren” erhob die AWG (nicht zu verwechseln mit dem Verein Nachbarn 60) immer wieder Einspruch und holte vor Jahren bereits ein Gutachten ein, das belegt, dass das Zuführungsgleis nicht nötig ist und es eine menschenfreundliche, wenn auch teurere Alternative gibt. Laut Gutachten könnten S-Bahnen auch auf einem anderen Weg in die mittlerweile in Betrieb genommenen Abstellanlage einfahren.

Was genau droht, erzählt plastisch dieser Aushang der AWG, der Ende Juli im Grünstreifen diesseits der S-Bahn aufgehängt wurde und sich vor allem auf das erste Teilstück hinter dem S-Bahnhof Nippes bezieht:

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Mich persönlich hatte bereits Anfang des Jahres eine Nacht-und-Nebel-Aktion in Alarmbereitschaft versetzt. In einer Mensch und Tier überrumpelnden Blitz-Maßnahme wurden im Frühjahr 2022 Tatsachen geschaffen, bereits “Vorbereitungen” getroffen für die von der Deutschen Bahn geplante Bebauung. Entlang der Bahntrasse wurde gerodet, kleinere Bäume wurden gefällt, Sträucher komplett zurückgeschnitten. Das Gelände wurde -wie es aussieht- für einen Eingriff präpariert, der in keinerlei Hinsicht gebilligt ist. Wer den Kahlschlag in Auftrag gegeben und wer ihn durchgeführt hat, ist nicht bekannt.

Besonders augenfällig ist der Kahlschlag dort, wo er städtischen Grund berührt. Während ein wenige Meter breiter Geländestreifen neben der S-Bahntrasse der Deutschen Bahn gehört, ist ein kleines Wäldchen, das nach dem Willen der DB komplett plattgemacht werden soll, Eigentum der Stadt Köln. Noch scheitert das Bauvorhaben u.a. an diesem kleinen städtischen Wäldchen – und am Widerstand der Stadt Köln, die jedoch im Falle einer Bau-Bewilligung enteignet werden kann.

Ich habe das schwer beschädigte Wäldchen jetzt im September von verschiedenen Seiten fotografiert. Das Wäldchen wurde bei der Aktion unbegehbar gemacht. Abgesägte Äste wurden auf die Wege gekippt und der zentrale Zugang durch einen Baumstamm versperrt.

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Fünf sanfte letzte Kurven und ein Hauch von Central Park. “Wo jetzt in dieser Mini-Oase die Blätter rauschen und ein kühles Lüftchen im Sommer angenehm kühlt, sollen S-Bahnen aus ganz NRW nachts zu einem “Parkplatz” mit 18 Gleisen hin und zurück rollen.” (AWG)

Da die klugen Köpfe der AWG in ständiger Alarmbereitschaft sind, hatten sie mitbekommen, dass die Deutsche Bahn erneut ein “Planfeststellungsverfahren” angestrengt hat. Anfang Juli informierte die AWG uns Nippeser Nachbarinnen und Nachbarn sowie den Nachbarschaftsverein der autofreien Siedlung und lud zu einer Info-Veranstaltung mit Begehung des betroffenen Gebietes ein. http://www.awg-nippes.de

Vielleicht muss man vor Ort gewesen sein und sich mit den Betroffenen unterhalten haben, um sich das Ausmaß der geplanten Bau-Maßnahme vorstellen zu können. So war bei der gut besuchten Info-Veranstaltung am 6.8.2022 glücklicherweise Journalist Bernd Schöneck vom Kölner Stadtanzeiger anwesend. In seinem “Kommentar zum Gleisvorhaben in Köln-Nippes” vom 10.8.2022 mit dem Titel “Es bliebe fast nichts, wie es ist” stellt Schöneck fest, dass das “Vorhaben wie ein Damoklesschwert über der Nippeser Eisenbahnsiedlung” schwebt. Weiter schreibt Schöneck, dass man sich des Verdachts nicht erwehren könne, “dass das Vorhaben bereits beim Siedlungsbau geplant war – und das wäre ein Skandal. Denn die Bewohner des Veedels wären bezüglich der Nutzung des Areals im Dunkeln gelassen worden. Zugleich zeigt sich leider erneut, dass das Wohl der Anlieger, vorsichtig gesagt, bei der Bahn nicht an allererster Stelle steht.” https://www.ksta.de/koeln/kommentar-zum-gleisvorhaben-in-koeln-nippes-es-bliebe-fast-nichts–wie-es-ist-39868530 Aufschlussreich auch: https://www.ksta.de/koeln/nippes/umstrittene-bahn-plaene-fuer-koeln-nippes–das-waere-eine-gefahr-fuer-leib-und-leben–39866080 (Beide Artikel konnte ich auch ohne Abo nach Anmeldung kostenlos lesen.)

Ich bin Bernd Schöneck dankbar für seinen engagierten Kommentar und auch dafür, dass endlich jemand den “Skandal” zur Sprache bringt. Was die autofreie Siedlung betrifft, spricht einiges dafür, dass der Bauträger Kontrola im Bilde gewesen sein dürfte. Als wir im Jahr 2007 unser Reihenhaus kauften, wurden wir während des ausführlichen Verkaufsgesprächs nicht über die Pläne der Bahn informiert. Wachgerüttelt wurden wir erst im Sommer 2008, als die Mitglieder der AWG anlässlich der ersten Offenlegung zum Protest aufriefen.

Hätte der Stellwerk 60– Bauträger und Projektentwickler Kontrola im Wissen um die Pläne mit offenen Karten gespielt, wäre es schwierig gewesen, die Häuser und Eigentumswohnungen zu verkaufen, zumal -während die Siedlung noch in der Bauphase war- mit der Finanzkrise 2008 der Verkauf ins Stocken geriet. Ohnehin war der Verkauf eine kaufmännische Herausforderung, denn vor 15 Jahren war es keineswegs sicher, ob sich Häuser ohne Stellplatz gut verkaufen lassen.

So aber wurde neben den Häusern in den anderen Bereichen der Eisenbahner-Siedlung ausgerechnet das Vorzeigeobjekt “autofreie Siedlung” auf ein Verschweigen gebaut. Dabei hatte Kontrola im Jahr 2007 gleich zwei Auszeichnungen entgegengenommen. Stellwerk 60 war nicht nur „Ort im Land der Ideen“, sondern wurde von der Konrad-Adenauer-Stiftung im Rahmen der „Qualitätsoffensive für Familien in Städten und Gemeinden“ ausgezeichnet. 

Leider schützen solche Preise die Bewohnerinnen und Bewohner nicht und schon gar nicht vor Willkür-Maßnahmen, sondern dienen lediglich den Bauunternehmen zu Werbezwecken. Nachfolge-Bauträger BPD wirbt heute noch mit dem Kontrola– Projekt “Stellwerk 60” und wurde vor wenigen Jahren mit dem Bau einer „Klimaschutzsiedlung“ in Köln-Lind betraut. (Allerdings liegen in Großstädten wie Köln die Flächen, auf denen noch ganze Siedlungen gebaut werden können, oft in heikler Nähe zur Autobahn, so auch hier. Diese Siedlung erfüllt zwar die Vorgaben des Leitfadens “100 Klimaschutzsiedlungen Nordrhein-Westfalens”, entsteht aber wenige Kilometer weit weg vom Flughafen Köln-Bonn in unmittelbarer Nähe des Lärmschutzwalls vor der Autobahn A59. Ich weiß nicht, ob es schon Straßennamen gibt. Mein Vorschlag: Am Linder Lärmschutzwall)

Immerhin ist der Linder Lärmschutzwall unübersehbar, während das Nippeser Zuführungsgleis mitsamt seinen landschaftszerschneidenden Lärmschutzwänden lediglich auf dem Papier exisitiert. Und das, was droht, ist so unglaublich, dass es die meisten verdrängen. In der autofreien Siedlung wurden in den letzten Jahren bereits einige Häuser von ahnungslosen Besitzern an ahnungslose Käufer überteuert verkauft. Auf diese Weise jedoch wird der Bauträger-Skandal, wird das Verschweigen weiter getragen. Der “Marktwert” ist reine Fiktion. Die permanente Drohung eines Zuführungsgleises senkt nicht nur den ideellen, sondern den tatsächlichen Wert der Immobilien meines Erachtens erheblich – auch den unseres Hauses.

Nachdem wir uns informiert hatten, bildeten fünf Mitglieder des Vereins Nachbarn 60 eine Arbeitsgruppe, um – angeregt von der AWG – eine Einwendung zu formulieren und Unterschriften gegen den Ausbau zu sammeln. Das war nicht einfach, da die Zeit drängte und man den “Abgabetermin” bei der Bezirksregierung auf den 15.8. gelegt hatte. Viele Nachbarinnen und Nachbarn waren in Urlaub, andere gerade zurück gekommen. Doch da die Sommerferien in diesem Jahr schon am 9.8. endeten, waren die meisten gerade noch rechtzeitig wieder vor Ort. Meistens halte ich mich bei Siedlungsaktivitäten zurück, aber diesmal gab es für mich kein Halten.

Gaby hatte der Arbeitsgruppe die wichtigsten Punkte der Planungsunterlagen vorgestellt, und Beate, die nicht nur ein außergewöhnliches politisches Gespür, sondern die Gabe hat, auch in äußerst angespannten Situationen besonnen zu bleiben, hatte die Einwendung verfasst. Sie opferte mehrere Urlaubs-Tage, um den kaum lesbaren Text durchzuarbeiten, ein Konvolut, das bis zum 15.7. im Internet öffentlich auslag und so umfangreich ist, dass es sich nicht per Mail-Anhang verschicken lässt.

So saßen wir fünf einander abwechselnd in der Mobilitätsstation, wo wir zwischen dem 8.8. und dem 13.8. an fünf Abenden Unterschriften sammelten. Von insgesamt knapp 1000 Unterschriften im gesamten betroffenen Bereich sammelten wir 280 von Bewohnerinnen und Bewohner der autofreien Siedlung, was etwa 20% entspricht. Der gemeinsame Tenor: Wir unterstützen den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, aber so bitte nicht!

Interessant war es, auf diese Weise mit den Nachbarn der Nachbarsiedlungen ins Gespräch zu kommen, darunter auch Menschen aus den ganz nahe an die bestehende Bahntrasse herangebauten Mehrfamilienhäusern “Am Ausbesserungswerk”. Ein Bewohner erzählte, dass sich der Estrich in seiner Wohnung durch die permanenten Boden-Erschütterungen so weit gesenkt hat, dass man -sehr zur Freude seiner beiden kleinen Söhne- Matchbox-Autos unter den Zimmertüren hin- und herflitzen lassen kann. Ein anderer erzählte, dass Menschen, die dort eine Wohnung neu beziehen, jetzt schon per Unterschrift zusichern müssen, dass sie, falls das Zuführungsgleis gebaut wird, die Miete nicht mindern.

Und ist das Gleis einmal fertig”, so schreibt Bernd Schöneck, “würden die Züge nur einige Meter entfernt von den Wohn- und Schlafzimmern der Häuserzeile am Ausbesserungswerk entlang rollen – dem „bewohnten Lärmschutzwall“, wie es recht zynisch hinter vorgehaltener Hand heißt.” (ksta.de, s.o.) Leider muss ich ergänzen, dass der “bewohnte Lärmschutzwall” nicht nur hinter vorgehaltener Hand so genannt wird, sondern bereits als ein solcher konzipiert worden ist. Im Stadtteilführer des “Archiv(s) für Stadtteilgeschichte Köln-Nippes e.V.” heißt es: “Aufsehen erregte vor allem ein direkt an der Bahnlinie liegender Gebäuderiegel, der als Lärmschutz für die rückwärtigen Gebiete an die Stelle der alten Wagenhalle treten sollte. Befürchtungen wegen Lärmbelastungen und einer geplanten Eisenbahntrasse unmittelbar vor den Häusern wurden mit dem Hinweis verworfen, die Bewohner würden vom Lärm nicht gequält, weil auf der Seite zur Bahntrasse nur Treppenhäuser und Küchen vorgesehen seien.” (“Loss mer jet durch Nippes jon”, 3. Auflage 2010, S.36)

Die AWG hat im Jahr 2017 eine Fotomontage kreiert, die leider schaurig realistisch ist. Ich habe mir erlaubt, sie von dem Flyer, wo sie abgedruckt ist, abzufotografieren. Hier wird simuliert, wie es “Am Ausbesserungswerk” aussähe, wenn…

Nun will die Deutsche Bahn -im wahrsten Sinne des Wortes- noch eins draufsetzen. An der Stelle, die ich, um den Kontrast zum Flyer zu zeigen, im Jetzt-Zustand fotografiert habe, soll nach den Plänen der Bahn zwecks Wendemöglichkeit das Zuführungsgleis sogar zweigleisig verlaufen. Und genau dort will man direkt vor den zwei Gleisen eine sechs (!) Meter hohe Lärmschutzwand errichten! Doch dieses Lärmabwehr-Ungetüm würde den Menschen im Erdgeschoss die Sicht und das Licht rauben und im vierten Stock nicht einmal den Lärm abhalten.

Mein Elfchen des Monats ist diesmal von der schamlosen FÜR EUCH- Werbekampagne der BILD – Zeitung inspiriert. Im Sommer 2019 startete BILD “… eine neue Werbekampagne, in deren Zentrum die Leser stehen. Die Kampagne „FÜR EUCH. BILD.“ stellt Menschen vor, die jeden Tag für andere im Einsatz sind, die Verantwortung übernehmen und die mehr Wertschätzung verdienen. Statt Situationen mit Schauspielern oder Models nachzustellen, zeigt die Kampagne BILD-Leser wie Krankenschwester Manuela, LKW-Fahrer Reinhold, Polizistin Mehtap oder Oma Lore in ihren Alltagssituationen.” https://www.axelspringer.com/de/ax-press-release/bild-startet-neue-werbekampagne-fuer-euch-bild

Wie schafft man es, Menschen, die eine knallharte Arbeit leisten, eine Arbeit, für die sich die meisten “zu schade sind”, Menschen, die permanent ihre physische und psychische Gesundheit FÜR UNS aufs Spiel setzen und die viel zu wenig verdienen, bei Laune zu halten? Indem man sie lobt, sich bei ihnen bedankt und sie prominent ins Bild setzt. In der Sprache der BILD nennt man das “Wertschätzung”.

Im darauffolgenden Jahr 2020 passte diese Kampagne wie von Jens Spahn bestellt zur bundesdeutschen Gesundheitspolitik. Jetzt machte die Kampagne nicht nur Werbung für die BILD-Zeitung, sondern für die staatlichen Corona-Maßnahmen – und die Corona-Maßnahmen waren wiederum eine Top-Werbung für die BILD. Während der “Pandemie” mussten die Plakatmotive nur entsprechend aktualisiert und um zusätzliche Motive ergänzt werden. Wir erlebten eine höchst erstaunliche Kooperation zwischen Boulevard-Zeitung und Bundesregierung.

***

Wie aber hält man Menschen bei Laune, die einen Lärmschutzriegel bewohnen und dafür auch noch (Miete) bezahlen müssen?

Liebe

Lärmschutzriegel-Bewohnende, schenkt

der Deutschen Bahn

ein Lächeln. FÜR EUCH.

BALD.

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Das gönnerhafte Lob sozial Benachteiligter, die Stärkung der Arbeitsmoral und die Überredung zu eigentlich unzumutbarer Arbeit via Werbung sind nicht neu. Um Arbeitskräfte anzuheuern, wurde schon im 20. Jahrhundert eine ausgeklügelte Plakatwerbung eingesetzt, die mit psychologischen Tricks arbeitete. Die Zielsetzung: Den Menschen einen beschämend schlecht bezahlten und dazu noch gesundheitsgefährdenden Job schmackhaft machen.

Dieses Werbe-Plakat aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg richtet sich an junge Schulabsolventen, die nicht das Privileg haben, eine höhere Schule besuchen zu dürfen, sondern -im Gegenteil- schon früh zum Familieneinkommen beitragen müssen. Das Plakat appelliert an das Verantwortungsgefühl und packt die Jungen bei ihrem gerade erwachenden männlichen Stolz. Der Beruf des Bergmanns, so die Botschaft des Plakats, ist nichts für Weichlinge, die nicht zupacken können, sondern “Ein Beruf für ganze Kerle”. (Der Ausdruck “ganzer Kerl” ist heutzutage kaum noch gebräuchlich. Ein “ganzer Kerl” sein meint soviel wie “körperlich und mental topfit sowie moralisch integer”.)
Die Abbildung des Plakats habe ich von der Internet-Seite “deisterbergbau.de” abfotografiert und den “Absender” mithilfe vom Lesebrille und Lupe hoffentlich korrekt entziffert: “Deutsche Verwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge der sowjetischen Besatzungszonen in Deutschland- Ausbildung und Umschulung – Berlin”                                                                                                    Schon mein Urgroßvater Leopold, geboren 1861 in Loslau/Oberschlesien, wurde gegen 1890 durch die Werbung der westdeutschen Bergbauunternehmen ins Ruhrgebiet gelockt. Für meinen Urgroßvater, der damals gerade geheiratet hatte, war die Arbeit unter Tage die vielleicht einzige Chance, eine große Familie -seine Frau Carolina sollte 12 Kinder zur Welt bringen- dauerhaft zu ernähren. Vermutlich hat es schon damals Werbeplakate in Form von Aushängen gegeben, auf denen bereits das noch Jahrzehnte später gegebene Versprechen (s.o.) stand: “Arbeit und Brot auf Lebenszeit”.                                                                                                                                                                   Im Nachhinein mutet diese Parole zynisch an,  denn die “Lebenszeit” der meisten, zu Beginn ihrer Arbeit noch gesunden Bergleute war begrenzt. Dass sie schwere und schwerste Schädigungen der Lunge davontrugen, gepflegt werden mussten und früh starben, dürfte insbesondere den Verantwortlichen in der SBZ längst bewusst gewesen sein. Erstaunlich ist auch, dass man ausgerechnet in der sowjetischen Besatzungszone mit der Plakat-Werbung im großen Maßstab ein zentrales Kommunikations- und Machtmittel des Kapitalismus einsetzte.                                                                          Mein Urgroßvater “erkrankte” schwer an der Staublunge und starb 1916 im Alter von 55 Jahren als Berginvalide. Sein Sohn Karl, mein Großvater, geboren 1898 in Bottrop, starb am 14.Juni 1946, dem Geburtstag des selbsternannten “Bergarbeiterfreundes” Donald Trump, im Alter vom 57 Jahren an Lungentuberkulose als Folgeerkrankung der Staublunge. Aber was bedeutet eigentlich “Staublunge”? Aufklärend: https://news.rub.de/wissenschaft/2018-08-28-bergbau-diagnose-staublunge

Elfchen im Siebten: Gartenschnecken-Hochzeit

* 9.7.1957

Am Strand von Spiekeroog: Kinder bauen bei Ebbe eine Sandburg. Als die Sandburg fertig ist, wird sie mit Muscheln verziert, denn Steine findet man am Strand vom Spiekeroog kaum. Die Kinder wissen, dass die Flut kommt, und gehen. Morgen werden sie eine neue Sandburg bauen, die schönen Schalen der Herzmuscheln gibt es wie Sand am Meer. Man merkt der Sandburg an, welche Freude die Kinder hatten, als sie sie gebaut haben. Zwei Jungs, die vorbeikommen, spüren das auch. Sie können die Schönheit der Sandburg nicht ertragen und zögern nicht lange. Was die Flut kann, können wir auch, nur viel schneller.

Aufgrund von Ausgrabungen mithilfe präziser moderner Techniken müssen die Ursprünge der Menschheit immer wieder neu datiert werden. “Sowohl genetische Daten heute lebender Menschen als auch Fossilien weisen auf einen afrikanischen Ursprung unserer Art hin. Die ältesten bisher bekannten Homo sapiens-Fossilien stammen aus Äthiopien: Die Fundstelle Omo Kibish ist 195.000 Jahre alt, Herto wird auf 160.000 Jahre datiert.https://www.mpg.de/11322546/homo-sapiens-ist-aelter-als-gedacht

Geschichtsschreibung als bewusste sprachliche Aufzeichnung und Deutung historischer Ereignisse sowie deren Festschreibung als “Geschichte” gibt es erst seit der Antike. Die frühen “Historiker” waren ausschließlich Männer. Mit dem Ende der Steinzeit und der Sesshaftwerdung der Menschen vor gerade einmal 10.000 Jahren hatten die Männer die Herrschaft übernommen. Das Patriarchat setzte sich mit aller Macht und Härte durch. Männliche “Stärken” wie Muskelkraft, Kampfbereitschaft und Kriegslüsternheit spielten eine immer größer Rolle, denn das Eigentum war entstanden und “musste” verteidigt werden. Fortan war die Geschichte mitsamt all ihren Institutionen, Erfindungen und kulturellen Errungenschaften immer auch eine Geschichte brutaler Kriege, der primitiven und brachialen Waffengewalt. Kaputtmachen ist einfach, Kaputtmachen ist feige, Kaputtmachen sichert Macht. Nichts ist einfacher, als mit roher Gewalt Tatsachen zu schaffen, Geschichte zu schreiben.

Doch warum hat die zwar gefahr-, aber dennoch friedvolle vorpatriarchale Epoche nicht eher geendet, “was hat die steinzeitliche Welt so lange in der Balance gehalten? Warum hat der Gebrauch von Werkzeugen und Waffen nicht zur Selbstzerstörung geführt? … Entscheidend war die Liebe zum Leben: Das Gespür für Natur, die Ehrfurcht vor der weiblichen Gebärfähigkeit und die Einbettung des menschlichen Daseins in den göttlichen Kosmos…” Weiterlesen: https://stellwerk60.com/2016/12/06/die-menschheitsgeschichte-begann-in-afrika/

Doch eben diesen friedenssichernden göttlichen Kosmos, jene spirituelle Balance meint der männliche Größenwahn zertrümmern zu müssen. Die männliche Hybris konkurriert dabei nicht nur mit der göttlichen Schaffenskraft, sondern auch mit der Schöpfungsgeschichte. Männer wollen auch deshalb Macht und Einfluss haben, um selber Schöpfer zu sein, (Welt-) Geschichte zu schreiben.

Dieser Gestaltungs-Ehrgeiz zeigt sich auch im Verhalten vieler unserer Zeitgenossen, die, sobald sie Einfluss haben, ohne es zu merken permanent Sandburgen zertrümmern. Buchautor und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach will uns nicht nur alle impfen, sondern uns alle aufklären: “Bevor es zu spät ist” (Rowohlt 2022). Wissenschaftsjournalist, Atheist und Buchautor Ranga Yogeshwar, den ich in mancherlei Hinsicht sehr schätze, impft uns mit Halbwissen. Sein Video “Warum Impfen schlauer ist” (6.8.2021) ist zwar spätestens seit Omikron in allen Punkten widerlegt, steht aber weiterhin unverändert im Netz. https://www.youtube.com/watch?v=gT9z-l77ZYk

Schon anlässlich der Schweinegrippe im Jahr 2009 mutierte Yogeshwar zum öffentlich-rechtlichen Impf-Missionar. In einer Quarks&Co-Sendung zum Thema Schweinegrippe am 1.9.2009 beantworteten Ranga Yogeshwar und der Virologe Alexander Kekulé, der sich wenig später mit dem schon damals umstrittenen Impfstoff Pandemrix impfen ließ, Zuschauerfragen. Ende 2020 dann benutzte Yogeshwar im Interview mit morgenpost.de in Bezug auf die Corona-Impfung eine zum Fremdschämen kitschige, hymnisch-sentimentale Floskel, die mich aufhorchen ließ: “Ich bin stolz, jetzt Teil der Menschheit zu sein.” https://www.morgenpost.de/berlin/article231048684/Ranga-Yogeshwar-Corona-Impfen-Schnelltests.html (leider €)

***

Doch wer die Natur nicht sentimental verklärt oder nach Brauchbarkeit abklopft, nach Nutzen für Technik und Wissenschaft, wer noch zu schauen oder zu lauschen vermag, dem (oder der) erzählt sie wundersame Geschichten:

Krochen

in den

Nabel der Spirale

und fanden sich da…

Schöpfungswonne*

Sommer 2021: Diese weibliche Figur habe ich vor drei oder vier Jahren in einem Kringloopwinkel (Kringloop = Kreislauf) in Alkmaar gefunden. Das Holz war glänzend lackiert, aber der Regen hat den Lack mit der Zeit abgewaschen.                                                                                                                           Strudel bewegen sich spiralförmig. Diese langsam fließende Spirale vermittelt nur eine leise Ahnung von der Sogkraft des Strudels. Und doch schienen die beiden Gartenschnecken durch eine geheimnisvolle Kraft in den Nabel der Figur, in den Mittelpunkt der Spirale gezogen worden zu sein. Dabei ist diese Spirale ein Spiel mit der Spirale, die sich, als ich sie genauer betrachtete, noch als etwas anderes entpuppte: Zwei ineinander verschlungene Schlangen.                                          Nachdem ich sie vom Sofa aus beim Blick durch die Terrassentür entdeckt hatte,  blieben die Schnecken dort -zwischen den regenfeuchten Blättern von Minze und Efeu- noch eine Stunde oder länger. Dann ließen sie einander los und krochen in verschiedene Richtungen davon.

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Ergänzung 16.7.22: Was aber ist der Unterschied zwischen dem Gartenschnecken-Paar und dem Ehepaar Lindner/Lehfeldt? Wir erinnern uns: Bundesfinanzminister Christian Lindner hat am vergangenen Wochenende auf Sylt eine Journalistin namens Franca Lehfeldt geheiratet. Anders als die bundesdeutsche Politprominenz waren wir, das Volk, nicht eingeladen, durften aber der Traumhochzeit zwischen Lindner und Lehfeldt bzw. Politik und Journaille vom Fernsehsessel aus zuschauen.

In der EMMA brachte Alice Schwarzer “den kleinbürgerlichen Kitsch” der Veranstaltung auf den Punkt: “… Das ganze medial effektiv beschirmt von einer Hundertschaft Polizei, bezahlt vom Steuerzahler. Hochzeitsgast Friedrich Merz braust im Privatjet aus dem Sauerland an, markig am Steuerknüppel. Ein echter Mann eben. Ex-Kandidat Laschet kommt aus Aachen im Kleinbus. Passt. Die Braut steckt in einem cremefarbenen „Jumpsuit“, rückenfrei, der Bräutigam in einem sehr blauen Anzug. Er steigt, knapp vor dem Kirchenportal, aus einem schwarzen BMW. Sie folgt in einem schwarzen Porsche Targa.” https://www.emma.de/artikel/lindner-hochzeit-es-ist-zum-kotzen-339645

Am liebsten hätte ich weggeguckt, aber Abschalten ging nicht. Schließlich wurden wir auf allen Kanälen mit der Story beballert. Und das, wie Alice Schwarzer schreibt, in “Zeiten, in denen die Inflation galoppiert, die Menschen arbeitslos werden, Alten und Armen das Gas abgedreht wird; in Zeiten, in denen Krieg nebenan ist und in Afrika deswegen noch mehr Menschen verhungern.” (emma.de, s.o.)

Wir sind das Volk.” Es gibt uns noch, aber wir sind zum Zuschauen verdammt. Wir müssen das Hochzeitsfest mitfinanzieren, müssen Eintritt bezahlen, aber die Party findet ohne uns statt. Nun zeichnet sich die aktuelle deutsche Bundespolitik durch Abschottung von den Menschen, durch eine kaum noch erträgliche Egomanie der Agierenden, durch Selbstgerechtigkeit, Eitelkeit und Gleichgültigkeit aus. Dolce Vita in Germany: Dass Autonarr und Bundesfinanzminister Lindner, während weltweit Großbrände wüten, seine Hochzeit dazu benutzt, für die deutsche Autoindustrie zu werben, für Porsche und BMW, ist nicht nur scham- und geschmacklos, sondern -wie Alice Schwarzer sagt- zum Kotzen.

Doch was ist jetzt der Unterschied zwischen dem Gartenschnecken-Paar und dem Ehepaar Lindner/Lehfeldt?

Anders als Lindner/Lehfeldt sind den Gartenschnecken Geld, Selbstdarstellung und Haartransplantationen (Lindner) fremd. Und abgesehen davon, dass sie gar nicht stehen können, stehen Gartenschnecken nicht gerne im Mittelpunkt. Beifall ist ihnen suspekt. Aus gutem Grund verstecken sie sich lieber. Doch wenn Schnecken Hochzeit feiern, sind sie der Mittelpunkt der Welt – was alle nachempfinden können, die glücklich verliebt sind oder es einmal waren.

Gartenschnecken sind verletzlich, sie paaren sich nur dort, wo sie sich geschützt fühlen- stundenlang. Dass sie sich vor meinen Augen in den Mittelpunkt der Spirale gesetzt haben, berührte und erfreute mich. Ich war zu ihrer Hochzeit eingeladen. Diese beiden Schnecken schienen genau zu wissen, dass ich sie erschütternd schön finde. Niemand kann mir erzählen, dass Schnecken nicht dankbar sind.

*Auf den Begriff „Schöpfungswonne” bin ich bei der Theologin Hanna Strack gestoßen, die ihn wiederum in einer Schrift des Religionswissenschaftlers Walter Schubart entdeckt hat (“Religion und Eros”, 1941). In ihren Büchern schließt sich Hanna Strack der Weltsicht der Philosophin Hannah Arendt an, für die das menschliche Leben von der Geburtlichkeit geprägt ist und nicht-wie es die klassische Philosophie postuliert- von der Sterblichkeit. Das geht einher mit einem radikalen Perspektivwechsel, denn die Entwürfe der mittlerweile 85jährigen Christin Hanna Strack haben naturreligiöse Elemente.

Anders als die Theoretikerin Hannah Arendt versinnlicht Hanna Strack die “Geburtlichkeit”. Für sie sind Menschen nicht nur Geborene, sondern Gebärende, wobei das Vermögen, ein Kind zur Welt zu bringen, ein rein weibliches ist. Hanna Strack, die drei Kinder zur Welt gebracht hat, entwickelt eine „Theologie des Blühens“ und richtet den Blick auf “das Leben in Fülle”. Sie unterwirft sich nicht der christlichen “Unter Schmerzen sollst du gebären” – Doktrin, die den Geburtsschmerz als Strafe versteht, sondern entwickelt eine gewagte feministische These: Indem sie mithilfe der Wehen ein Kind/den Menschen zur Welt bringt, ist die Frau “Mitschöpferin”.

Der liebe Gott am alten Stellwerk – Was ist eigentlich SYNCHRONIZITÄT?

Seit ein paar Jahren erlebe ich immer wieder Erstaunliches, das sich rational nicht erklären lässt. Meine Töchter, die beide Psychologie studieren, haben mir erklärt, dass es sich um Ereignisse handelt, die der Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie, Carl Gustav Jung (1875-1961), “Synchronizität” genannt hat. Es ist gut zu wissen, dass es für meine Erfahrungen einen Begriff und eine Erklärung gibt, und vor allem: Dass andere Menschen Ähnliches erleben.

Leider sind die Definitionen, die ich im Netz finde, so abstrakt, dass sie kaum jemand verstehen kann. Die konkreteste ist noch folgende Erklärung im Wikipedia-Eintrag:

Es handelt sich bei der Synchronizität um ein inneres Ereignis (eine lebhafte, aufrührende Idee, einen Traum, eine Vision oder Emotion) und ein äußeres, physisches Ereignis, welches eine (körperlich) manifestierte Spiegelung des inneren (seelischen) Zustandes bzw. dessen Entsprechung darstellt”. https://de.wikipedia.org/wiki/Synchronizität

Diese Definition (in dem ansonsten sehr erhellenden Beitrag zu Synchronizität) sagt allerdings nur den Menschen etwas, die bereits Synchronizitäts-Erfahrungen gemacht haben. Und sie fasst auch nicht das Rätselhafte und Wundersame. Daher möchte ich das Phänomen einfach erklären. Am besten geht das, wenn ich es mit dem Träumen vergleiche: Man stelle sich vor, die Absonderlichkeiten, die wir träumen, passieren wirklich!

Träume können schön sein oder bedrohlich, schlicht oder hochkomplex, banal oder existentiell. Oft halten sie uns den Spiegel vor. Manchmal ertappen sie uns. Träume führen uns mit Personen zusammen, die wir nie treffen wollten. Wir finden uns in liebender Umarmung mit einem Menschen wieder, den wir “in echt” nicht mögen. Was bedeutet das? Sehnen wir uns insgeheim nach diesem Menschen?

Erstaunlich finde ich immer wieder, dass uns ein Traum keine zusammenhanglosen Bilder serviert, sondern eine sinnvolle und oft klar strukturierte Geschichte erzählt, die ziemlich verrückt sein kann und oft auch überraschende Wendungen enthält. Doch wer oder was erzählt da eine Geschichte? Etwas scheint in uns zu sein, das mehr über uns weiß als wir selber. Keine künstliche Intelligenz, sondern eine wirkliche, eine geheimnisvolle. Wenn wir wieder wach sind, ist der Traum zu Ende. Meistens jedenfalls.

Synchronizitätserlebnisse ähneln Träumen, doch ist das, was in unseren Träumen “nur geträumt” ist, real. Seltsamkeiten, wie sich sich sonst nur im Traum ereignen, passieren tatsächlich. Gleichzeitig spiegeln die realen Ereignisse unsere Vorstellungen oder unsere unausgesprochenen Gedanken. Manchmal ist es, als könnten die Ereignisse Gedanken lesen. Berühmt geworden ist eine Geschichte, die C.G. Jung in seiner analytischen Praxis selber erlebt hat.

Eine junge Patientin hatte in einem entscheidenden Moment ihrer Behandlung einen Traum, in welchem sie einen goldenen Skarabäus zum Geschenk erhielt. Ich saß, während sie mir den Traum erzählte, mit dem Rücken gegen das geschlossene Fenster. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, wie wenn etwas leise an das Fenster klopfte. Ich drehte mich um und sah, dass ein fliegendes Insekt von außen gegen das Fenster stieß. Ich öffnete das Fenster und fing das Tier im Fluge. Es war die nächste Analogie zu einem goldenen Skarabäus, welche unsere Breiten aufzubringen vermochten, nämlich ein Scarabaeide (Blatthornkäfer), Cetonia aurata, der gemeine Rosenkäfer, der sich offenbar veranlasst gefühlt hatte, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten in ein dunkles Zimmer gerade in diesem Moment einzudringen.“ (zitiert nach wikipedia, s.o.)

Ich persönlich mag Streitgespräche, doch meistens geht es da nur um den Schlagabtausch, während sich die Fronten verhärten. Jeder will gewinnen, ich, wenn ich dabei bin, übrigens auch. (Nebenbei gesagt: In der geschlossenen Gesellschaft des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ist seit Corona das Denken tabu. Sorgfältig ausgewählte Talkshowgäste führen Scheingefechte, bei denen alle gewinnen, denn die einzelnen Positionen unterscheiden sich nicht wirklich voneinander. Man bestätigt sich gegenseitig und geht gut gestimmt aus der Veranstaltung heraus. Dieser Triumph ist jedoch nur durch die Ausgrenzung Andersdenkender erkauft.)

Erkenntnis jedoch kann nur gewonnen werden, wenn die Gesprächspartner nicht miteinander konkurrieren. Ist die Gesprächs-Situation offen und entspannt, kann gelingen, was der Schriftsteller Heinrich von Kleist (1777-1811) in einem Aufsatz “Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden” genannt hat.

So wie in C.G. Jungs Behandlungsraum: Die Patientin erinnert sich an den Traum und bewahrt ihn auf diese Weise davor, dass sie ihn wieder vergisst. Dann nämlich würden seine Bilder und Botschaften wieder ins Unbewusste abgleiten. Während die Patientin ungestört ihren Traum nacherzählt, ins Bewusstsein holt und noch einmal zum Leben erweckt, ist der Therapeut entspannt und gespannt zugleich, er ist ganz Ohr. Das ist nicht ungefährlich, da er an eben dieser Stelle ungeschützt ist. Doch C.G. Jung vertraut seiner Erfahrung und hört auf das Ohr, denn er weiß: Als unser ältestes, erstes, schon in einer frühen Phase unserer pränatalen Existenz hochentwickeltes Wahrnehmungsorgan ist das Ohr das Kontaktorgan und die Pforte zu unserer Innenwelt und dem Unbewussten.

Und es ist wiederum das offene Ohr, das die Klopfgeräusche eines kleinen Käfers vernimmt, dessen ferner Verwandter, der Skarabäus, als Glücksbringer gilt, weil er über telepathische Fähigkeiten verfügt. “Die Bedeutung als Glücksbringer und Schutzsymbol resultiert aus der früheren Annahme, dass Skarabäen das Nilhochwasser angeblich frühzeitig spüren. Die Tiere wanderten weg vom Wasser, tauchten in den Häusern auf und kündigten so den Ägyptern das ersehnte Nilhochwasser an.” https://de.wikipedia.org/wiki/Skarab%C3%A4us

Nur gut, dass C.G. Jung den Käfer (im Fluge!) gefangen hat, denn vielleicht wollte der kleine, neugierige Käfer nicht nur in das Zimmer hinein fliegen, sondern in das Ohr des großen Wirklichkeitsdeuters krabbeln. Der außergewöhnlich phantasiebegabte C.G.Jung sagte einmal einen wunderbaren (aus heutiger Perspektive “globalisierungskritischen”) Satz, der oft zitiert werden sollte: “Das einzig lebenswerte Abenteuer kann für den modernen Menschen nur noch innen zu finden sein.” (C.G. Jung: Der Mensch und seine Symbole.) Dieses abenteuerliche menschliche Innen interessiert natürlich auch einen Käfer. Wie dem auch sei: Was sich da zwischen Therapeut, Patientin und Käfer ereignet, spiegelt nicht nur den Traum der Patientin, sondern hört sich an wie ein Traum. Nur ist es keiner.

Manche Menschen berichten davon, dass sich während eines intensiven Gesprächs mit einem seelenverwandten Menschen plötzlich in der Außenwelt etwas ereignet, das das Gespräch bebildert. Ich kenne das von Telefongesprächen mit meiner jüngeren Tochter, die die Gewohnheit hat, mich anzurufen, wenn sie zu Fuß unterwegs ist.

Ende Mai 2021: Meine Tochter gehört Brexit-bedingt zu den vermutlich letzten Erasmus-Studentinnen in England und wird noch bis Ende Juni 2021 an der “Durham University” eingeschrieben sein. Während die Lehrveranstaltungen fast alle online stattfinden, werden im Frühjahr 2021 endlich wieder (kostenlose) Uni-Sportkurse angeboten. Das Angebot ist groß- auch für die Erasmus-Studenten, die ja nicht einmal Studiengebühren zahlen. Meine bewegungsfreudige Tochter würde am liebsten alle Kurse belegen, was natürlich nicht geht. So entscheidet sie sich für Fußball, Tennis, Kanu auf dem Fluss Wear, Volleyball, Badminton und Netball, laut meiner Tochter “eine Art Soft- Basketball für Frauen”.

Jetzt ist sie auf dem Weg zum Badminton-Training, das in einer hochmodernen Halle im “Maiden Castle Sports Park” stattfindet. Da sie das Corona-Test-Ergebnis abwarten muss, hat sie noch Zeit und ruft mich an. Ich sitze gerade am Computer und studiere den Wetterbericht für Durham. “Du hast heute Nebel”, sage ich. “Wann kriegst du dein Testergebnis?”

“Gleich”, sagt meine Tochter. “Aber hier ist es nicht nebelig.”

“Merkwürdig”, sage ich. Wir reden vom Rasenmähen, um das meine Tochter nicht herum kommt, weil es in ihrem WG-Zimmer-Mietvertrag ausdrücklich als Pflicht vermerkt ist, dann von den Krähen, die in Durham anders aussehen als in Köln oder Heidelberg. Währenddessen gucke ich kurz ins Internet und stelle fest, dass das Symbol, das ich im Wetterbericht gesehen habe, tatsächlich “Nebel” anzeigt. Jetzt wird mir Brillenwerbung eingeblendet. Dafür hat sich laut Wetterbericht der englische Nebel verflüchtigt. Ich klicke den Wetterbericht weg, aber wieder kommt Brillenwerbung.

“Mir werden ständig Brillen eingeblendet”, sage ich zu meiner Tochter. “Was soll ich denn damit? Aber der Nebel hat sich aufgelöst.”

“Sag ich doch”, lacht die. “Aber das ist ja lustig.”

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Im Gras findet meine Tochter eine Brille, die sie im Sport-Center abgibt. Ich beschließe, nicht mehr so oft in den Wetterbericht zu gucken, der neuerdings eh kaum noch stimmt.  Der Schatten belegt, dass es in Durham nicht nebelig ist. (Foto: Selfie) Meine Tochter hatte zu dieser Zeit, wie man sieht, gestutzte Fingernägel. Das war den Netball- “Benimmregeln” geschuldet. Wenn zwei College-Mannschaften aufeinander treffen, kontrolliert die Schiedsrichterin vor dem Spiel die Fingernägel der Spielerinnen. Damit sich die Spielerinnen nicht kratzen können, müssen die Nägel kurz geschnitten sein und dürfen nicht über die Fingerkuppe ragen.

Eine telepathisch-telekommunikative Nabelschnur…

November 2021: Meine Tochter, die Corona-bedingt überwiegend online studiert, ist wieder aus England zurück, zur Zeit aber in Frankreich. Sie ist auf dem Weg zum Bahnhof von Saint-Germain-En-Laye und nutzt die Gelegenheit, mich anzurufen. Wir reden über dies und das, und dann erzählt sie mir etwas, das sie beunruhigt: Sie hat schon mehrere junge Französinnen kennengelernt, die mit dem Militär liebäugeln und von einer Karriere bei der Armee träumen. Meine Tochter, die als Fußballerin den spielerischen Zweikampf nicht scheut, ist eine glühende Pazifistin.

Ich necke meine Tochter und erinnere sie daran, dass sie -nachdem sie sich bei einer Werbeveranstaltung in ihrer Schule spaßeshalber in eine Liste eingetragen hatte- eine Zeitlang immer wieder Post von der Bundeswehr bekam.

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Köln-Nippes, Herbst 2020. Eine perfekte Tarnung: S-Bahn im Military-Look. Werbe-Slogan: “MACH, WAS WIRKLICH ZÄHLT. Nach der Schule liegt dir die Welt zu Füßen.  MACH SIE SICHERER.” Diese offensive Zurschaustellung der Bundeswehr wäre zu Zeiten einer allgemeinen Wehrpflicht  undenkbar gewesen. Doch der Bundeswehr fehlen die Rekruten. Wer geht nach der Befreiung von der Wehrpflicht noch freiwillig zur Bundeswehr? Also muss Werbung her.                       Frühsport und Drill im Dreck konnten die wehrpflichtigen Männer meiner Generation noch abschrecken, werden aber heutzutage den jungen Leuten als Fitness-bzw. Survival- Training  verkauft. So banalisiert man den Krieg. Military Fitness lockt leider auch Frauen an. Die Schlacht -so wird suggeriert- ist eine schweißtreibende Angelegenheit, und zwischen Fitness-Studio und Front besteht kaum noch ein Unterschied.                                                                                                    Mit großem medialen Aufwand startete  die Bundeswehr im Jahr 2015 eine erste bundesweite Werbekampagne. Die junge blonde Frau, die uns in einem kleinen Video vorgestellt wird, wollte eigentlich Lehrerin werden. In der Eingangssequenz wandert sie mit einem Rucksack auf dem Rücken durch eine Alpen-Landschaft. Aber sie ist keine Backpackerin, sondern angehende militärische Führungskraft. Gerade absolviert sie einen freiwilligen Wehrdienst bei den Gebirgsjägern, was sie auf die Idee bringt, sich zur Offizierin ausbilden zu lassen. https://www.welt.de/kultur/video149501137/Mach-was-wirklich-zaehlt.html

Der Krieg lässt uns nicht los. Da man am Telefon schlecht schweigen kann, reden wir und reden, auch über den Vater meiner Töchter, der ein leidenschaftlicher Kriegsdienstverweigerer und überzeugter Zivildienstleistender war. Mit Zivis, die er später unterrichtet hat, hat er Klaus Theweleits “Männerphantasien ” gelesen. Wir reden und reden und landen bei Trump: Eigentlich sind militärische “Übungsflüge” über Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern verboten. Am Tag nach Trumps Wahl zum Präsidenten der USA sind jedoch “just for fun” Kampfjets über Köln und auch über die autofreie Siedlung hinweg geflogen. Weil ich zufällig draußen war, habe ich es überhaupt nur mitgekriegt. Scheinbar hat es niemanden interessiert. Gruselig!

“Das darf doch nicht wahr sein”, sagt meine Tochter und lacht. “Da kommen Panzer angefahren.”

Was gerade noch Gesprächsthema ist, kann schnell Realität werden. Straßenkreuzung in Saint-Germain-En-Laye, Panzer-Transport:

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Ich muss gestehen, dass diese und andere Erlebnisse -kleine Synchronizitäten- mir zunächst nicht ganz geheuer waren. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, denn sie passieren oft und sind zwar rätselhaft, aber (in der Regel!) alltäglich. Meine “Allltagswunder” sind weder gut noch schlecht, sondern erstaunlich. Um Synchronizität zu erleben, muss man offen sein und darf keine Angst davor haben, verrückt zu werden.

Es ist überlebensnotwendig, dass wir uns und insbesondere unsere Kinder vor den Schreckens- und Horrorbildern schützen, mit denen wir tagtäglich beballert werden, nicht nur im Internet, sondern zunehmend auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Denn diese Bilder machen Angst. Sie besetzen und zerstören nicht nur die Phantasie, sondern verfolgen uns bis in unsere Träume. Ich denke dabei nicht nur an offen brutale Szenen. Erschreckend finde ich den Krimi-Schauplatz Gerichtsmedizin. Auch in den Krimis, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk ausstrahlt, werden “gespielte” Leichen schamlos zur Schau gestellt. Insbesondere im Münsteraner “Tatort”, der zur besten Sendezeit familienfreundlich daher kommt, werden Krankheit, Mord, Tod und Sterben veralbert und banalisiert.

“Alltagswunder” können wir nur dann erleben, wenn wir es schaffen, uns die offen oder versteckt brutalen Bilder vom Leibe zu halten. Im Fernsehen meiner Kindheit gab es “Kinderstunde”, “Sendeschluss” und mediale Verschnaufpausen. Wir Kinder der 1960er Jahre, so behaupte ich, haben noch anders geträumt. Meine Kinder-Alpträume waren so harmlos, dass ich eine Technik entwickeln konnte, mich daraus zu retten und in Sicherheit zu bringen. Praktischerweise hatte ich immer den gleichen Alptraum: In dem kleinen Wäldchen, wo wir Kinder gerne spielen, werde ich von einem Krokodil verfolgt. Dann sage ich mir, dass es in Bottrop keine Krokodile gibt, ziehe mich mit aller Kraft aus dem Traum heraus und wache auf. Der Trick klappt immer noch, auch wenn das Krokodil mittlerweile der Mensch ist. Den gibt es zwar in Bottrop, aber den kenne ich.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich geneckt werde. Da ertappt mich jemand, ein Schelm, ein Trickster. Der Witzbold hält mir den Spiegel vor und kennt meine Ticks und Marotten. Und er weiß um mein Faible für Zahlen.

Im Sommer habe ich mir zum ersten Mal im Leben ein Auto gekauft. Als ich ein gutes Angebot bekam, schlug ich direkt zu. Es ging nicht anders: In der verkehrten Welt der autoritären Corona-Maßnahmen ist ausgerechnet das Auto (m)ein Freiheits-Gefährt.

Juni 2021: Ich habe das Glück, kurzfristig einen Vormittags-Termin in der KFZ-Zulassungsstelle zu bekommen. Ich habe ein Wunsch-Kennzeichen im Kopf, ein Buchstabenpaar und die zweistellige Hausnummer meines Elternhauses. Ich bin optimistisch, schließlich will ich nicht das beliebte Autokennzeichen K FC plus einer Zahl zwischen 1 und 9999. Diese Kennzeichen sind längst alle vergeben.

Zufällig werde ich an genau den Schalter geschickt, dessen Nummer mit meiner Elternhaus- Nummer bzw. Autokennzeichen-Wunschzahl identisch ist. Das passt, denke ich. Doch leider ist mein Wunsch-Kennzeichen schon vergeben. Übrig sind nur noch drei- und vierstellige Zahlen. Ich habe ein paar tausend Zahlen zur Auswahl. Die Frau hinter dem Schalter ist geduldig. Nach einigem Überlegen entscheide ich mich für eine dreistellige Zahl. Ich bin mir jedoch nicht ganz sicher, ob diese Zahl die richtige ist. Das sollte sich ändern.

Nachmittags gehe im REWE einkaufen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich kaufe, ein paar kleine Teile, aber an den Geldbetrag erinnere mich genau: Die krumme Summe entspricht genau den Zahlen auf meinem Autokennzeichen!

November 2021: Ich schreibe an meinem Blogbeitrag “The Great Health Dictator”, der auch eine Hommage an Charlie Chaplin ist. Auf dem Weg zum Siedlungsladen denke ich darüber nach, dass ich alle Informationen aus dem Internet habe und dass es eigentlich schade ist, kein Buch über Chaplin zu besitzen. Gleichzeitig bin ich froh darüber, denn wir haben zu viele Bücher, außerdem leben in unserem Haus bücherliebende Silberfischchen. Kurz vor dem Geschäft bemerke ich eine “Zu Verschenken”- Kiste. Darin sind zwei gut erhaltene Bücher: Ein Kochbuch und…

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Dass es sich bei meinem Fundstück laut Verlags-Werbung um einen “Sensationsfund” handelt, finde ich lustig. Ich habe das Buch mit nach Hause genommen, denn Geschenke darf man nicht ausschlagen. 

Blödel-Ölfchen: Klimakommentar des Meisenknödels

Der Januar 2022 ist so mild, dass schon jetzt das Gras wieder wächst. Wie kräftig und saftig -wenn auch spärlich- die Halme mancherorts sprießen, demonstrieren fünf Meisenknödel, die vor dem Nippeser Mehrfamilienhaus Am alten Stellwerk 32 an den Ästen eines Baumes hängen.

Die

Sturmfrisur des

Meisenknödels ähnelt der

des Greisenschädels – O schneemännerloser

Jänner!

***

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Immerhin wurde bei der Herstellung dieses Knödels frischester Grassamen verbacken! Etwas Gutes haben die milden Temperaturen: Fiele auch nur ein bisschen Schnee, würden die Nippeser Kinder kleine Schneemänner bauen, und die Meisenknödel müssten als Köpfchen herhalten. Leider kann ich mich nicht am Grün erfreuen. Wenn der Winter ausbleibt, erfriert das Frühlingserwachen.

Genau vor einem Jahr war in Nippes an den beiden Sonntagen 17.1. und 24.1.2021 etwas Schnee gefallen. Damals “war die Stimmung ausgelassen. Eine Ahnung vom Winter, wie er früher einmal war, ließ viele Menschen die Corona-Zwangsmaßnahmen für eine Weile vergessen.” https://stellwerk60.com/2021/02/22/schnee-elfchen-tauwettertrotz/

Ich wünsche unseren Kölner Kindern, die (genauso wie die schneeverwöhnten Kinder in Süddeutschland) tagtäglich die geballte Dummheit der öffentlich tonangebenden Erwachsenen ausbaden und seit fast zwei Jahren die Zumutungen einer respektlosen, autoritären Corona-Politik erdulden müssen, viel Schnee, wenn nicht jetzt, dann im Februar!

Dir, Ökohund Freki (vgl: https://stellwerk60.com/2021/05/24/elfchen-im-funften-hunde-brauchen-baume/), wünsche ich den Schnee natürlich auch!

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Das Bad im Schnee  – Berauschend für ältere… Hunde.