“Hömma Lisa, du kannst ja braten”, sacht meine Nachbarin, die Frau Keuner, und stopft sich eine halbe Bulette ins Maul. “Aber wat isst du so langsam?”
“Ich will einfach nicht mehr so viel Fleisch essen.”
“Dann lass dir Zeit”, sagt die Frau Keuner. “Ich mach dat schon.”
Abends ist die Frau Keuner mit paar Flaschen Kölsch vorbeigekommen, und ich hab auf ihren Wunsch Buletten gebraten. Viele, weil ich damit gerechnet hab, dass die Frau Keuner viel essen kann. Die Frau Keuner spießt eine weitere Bulette auf. “Ich wollte dir den Appetit nicht völlig verderben, Lisa, aber die Wahrheit sagen. In dieser Bulette ist nicht nur das Fleisch von einem Rind und einem Schwein, sondern zerkleinertes Fleisch von unzähligen Rindern und Schweinen, denn das wird in riesigen Bottichen zermanscht. Aber sach, willst du nich mehr?”
Ich kann mich erinnern, dass mein großer Bruder vor gefühlt 55 Jahren einmal aus Futterneid vor den Augen seiner hungrigen, entsetzten Schwestern in eine Schüssel mit köstlichem Essen gespuckt hat, und zwar ausgiebig, aber was die Frau Keuner hier macht, das ist schlimmer, das ist Psycho-Spucken.
“Das Fleisch ist bio”, sage ich leise.
“Dann is dat eben Hackfleisch von unzähligen artgerecht gehaltenen Bio-Schweinen und Bio-Rindern. Deine Buletten sind echt lecker, aber noch verbesserungsfähig. Die Zwiebeln könnten feiner geschnitten sein. Ich komm jetzt einmal die Woche vorbei und kontrolliere deine Fortschritte. Das nächste Mal bitte mit Salat.”
“Kartoffelsalat?”
“Jau”, sagt die Frau Keuner. “Buletten mit Kartoffelsalat können wir noch essen, wenn wir überhaupt keine Zähne mehr haben. Aber jetzt pack mir bitte die restlichen Buletten in einen Tuppertopf. Die ess ich morgen in aller Ruhe, und zwar alleine, du störst ja nur.” Ich räume den Tisch ab und geh mit feuchtem Lappen und anschließend mit trockenem Geschirrtuch über die Platte, denn die Frau Keuner braucht fettfreien Platz für die Computerausdrucke.
Die Frau Keuner pickt ein paar übersehene Fleischkrümel vom Tisch und breitet die Ausdrucke aus. “Lisa, du musst mal langsam lernen, dich zu wehren. Du bist viel zu freundlich, aber die Gesellschaft ist das schon lange nicht mehr. Freundliche Menschen werden nicht ernst genommen. Die Demokratie ist nur noch Alibi. Die Politiker wollen deine Stimme, aber nach den Wahlen wollen sie dich ganz schnell wieder loswerden. Die sind an unserer Arbeit und an unserem Geld interessiert, aber nicht an unserer Meinung, denn das bringt nur Ärger. Wir sind denen lästig. Vielleicht erinnerst du dich: Vor zwei Jahren hast du gesagt, mit dem Jens Spahn würdest du gerne mal ein Gespräch unter vier Augen führen. Nur leider redet der Jens Spahn nicht mit dir. Aber das ist gut so, sonst wäre das Gesagte unter euch geblieben. Wozu hast du deinen Blog? Da kannst du aufschreiben, was du ihm gerne persönlich gesagt hättest. Schreib, was passiert ist, schreib über Jens Spahn. Der Mann hat uns viel angetan”.
“Das kann man doch so nicht sagen”, sage ich leise und räume die Teller in die Spülmaschine. “Der Jens Spahn hat im Jahr 2020 einen FDP-Vorschlag abgelehnt und sich klar gegen die Leihmutterschaft ausgesprochen, und das rechne ich ihm hoch an.”
“Du musst den Spahn jetzt nicht noch in Schutz nehmen”, sagt die Frau Keuner. “Im selben Jahr hat der Jens Spahn die Widerspruchslösung für “Organspenden” vorgeschlagen, so, wie es die schon in der DDR gab. Damit ist er ja zum Glück nicht durchgekommen. Der Jens Spahn ist ein Karriererist, der ist schon mit 15 in die Junge Union eingetreten. Dann war er ausgemustert und hat eine Banklehre gemacht. Der Jens Spahn ist schon früh auf die schiefe Geldbahn geraten. Eigentumswohnung mit Anfang 20, zwei fette Kredite. Die mussten natürlich abbezahlt werden. Und was macht man, wenn man Geld braucht? Geschäfte. So empfiehlt man sich heutzutage für die Politik. Was in der Steinzeit die fette Beute war, sind heute die dicken Geschäfte… Aber wir reden ja jetzt über Corona. Corona hat gezeigt, wie autoritär unsere Politiker ticken, wie groß ihre Angst ist, Macht und Privilegien zu verlieren. Gehen wir mal zwei Jahre zurück. Also… Bundesgesundheitsminister Spahn muss beweisen, dass er alles im Griff hat. Denn in Deutschland regt sich Widerstand, Impf-Widerstand.”
Ich setze mich wieder zu der Frau Keuner, die mir einen Zettel mit Zitat zuschiebt mit der Bitte, laut vorzulesen: “‘Innerhalb der EU wird das Reisen voraussichtlich nicht von der Impfung abhängig sein’, sagte Spahn der ‘Rheinischen Post’ in der Samstagsausgabe (08.05.2021). `Auch mit den Testungen wird man sich europaweit gut bewegen können’, ergänzte er. Spahn selbst werde seinen Urlaub in Deutschland verbringen. ‘In dieser hoffentlich letzten Phase der Pandemie würde ich keine großen Fernreisen planen, Nordsee statt Südsee quasi’, sagte der CDU-Politiker.” https://www.fr.de/politik/jens-spahn-urlaub-bundesrat-lockerungen-geimpfte-genesene-entscheidung-gesetz-deutschland-sommerferien-zr-90497261.html
“Das ist sowas von autoritär”, sagt die Frau Keuner. “Und wieder einmal wird das schöne Wort “Hoffnung” missbraucht. Hör dir das an: “Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) macht Hoffnung auf den Sommerurlaub in EU-Staaten.” Da stilisiert sich der Spahn auch noch zum Überbringer der Frohen Botschaft. Das ist gönnerhaft. Doch mittlerweile wissen wir, dass nicht nur beim Maskenkauf einige Milliarden Euro Steuergelder verschwendet wurden, sondern auch bei der Beschaffung von Tests. Das war nur zu unserem Schutz, wie die behauptet haben, das ist nicht mal nachgeprüft worden.” https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/pcr-tests-111.html
Die Frau Keuner öffnet sich die frische Flasche Kölsch, die ich ihr aus dem Kühlschrank geholt hab. “Die unbrauchbaren Tests müssen jetzt auch alle vernichtet werden, genauso wie die abgelaufenen Impfstoffe und die unbrauchbar gewordenen Masken. Aber der Olaf Scholz wird sich, sobald der angepasste Corona-Impfstoff da ist, trotzdem ein fünftes Mal impfen lassen. Aus Treue zur Pharmaindustrie und aus Rechthaberei.” Die Frau Keuner trinkt einen Schluck. “Der Scholz wird noch mal so richtig auf die Schnauze fallen… Sach mal, Lisa, heulst du?” Sie reicht mir die Serviette, mit der sie sich vorhin den Mund abgewischt hat.
“Brauch ich nicht”, sage ich leise. “Ich habe nur immer die Bilder im Kopf. Ende August 2021 sind wir nach Frankreich gefahren. Wir mussten uns per Internet anmelden. Und dann brauchten meine jüngere Tochter und ich noch einen negativen Anti-Gen-Test, also waren wir am Tag vor der Abreise in der Test-Station gegenüber vom alten Schlachthof. Ich konnte mich nicht auf den Urlaub freuen. Wie soll man sich in die Vorfreude fallen lassen, wenn man nicht weiß, ob man nicht auf den letzten Drücker doch noch positiv ist. Vor mir war eine ungeimpfte Frau, ein paar Jahre älter als ich. Wenn man älter ist, zeigt man ja nicht mehr so gerne die Zähne, und man reißt man nicht gerne den Mund auf, vor allem nicht in einer Test-Baracke gegenüber vom alten Schlachthof. Die Frau hat geschrien und gelacht. Krampfhaft. Aber irgendwann hat sie dann doch den Mund aufgemacht.”
“Du hast doch den Spahn gehört”, sagt die Frau Keuner und grinst. “Du konntest froh und dankbar sein, als Ungeimpfte überhaupt ins Ausland zu dürfen. Ich war schon lange nicht mehr verreist. Welche Rentnerin kann sich das denn noch leisten? Den Leuten mit der kleinen Rente bringt die Rentenerhöhung nicht viel. Was sind 5% Rentenerhöhung, wenn du nur 600 Euro Rente kriegst? Aber komm jetzt nicht auf die Idee, mich beim nächsten Mal einzuladen. Wie du Urlaub machst, das ist mir einfach zu spießig. Du machst das, was du auch in Köln machst, du mietest für dich und deine Töchter eine bezahlbare Ferienwohnung und bestückst die mit euren Kölner Plörren. In Paimpol angekommen, gehst du nicht direkt zum Hafen, sondern in den Intermarché. Aber auch nur deshalb, weil es da keinen REWE gibt. Am nächsten Tag fahrt ihr drei zum Plage de Behec, aber der Strandtag fühlt sich an wie ein Tag in der Riehler Rheinaue.”
“2021 hat es sich wirklich so angefühlt”, sage ich leise. “Aller Zauber war weg.”
“Ich verschick übrigens Urlaubsfotos”, sagt die Frau Keuner. “Wenn du mir sagst, ich soll dir welche schicken, dann setz ich mich vor meine Fototapete und mach Selfies.”
“Was ist das denn für eine Fototapete?”
“Raufaser”, sagt die Frau Keuner. “Weiß, leicht vergilbt. Aber ich sag dir was. Du hast noch Glück gehabt. Andere Ungeimpfte mussten zu Hause bleiben, nur weil der Test positiv war. Aber negativ war auch nicht viel besser. Hör dir Spahns Satz noch mal genau an. Auch mit den Testungen wird man sich europaweit gut bewegen können – Das ist nicht nur gönnerhaft, sondern richtig böse. Und jetzt setz die Wörter “auch die Ungeimpften” ein, denn die sind ja gemeint. Also… Mit den Testungen werden sich auch die Ungeimpften europaweit gut bewegen können. Woran erinnert dich das?”
Ich ahne, worauf die Frau Keuner hinauswill. “An die elektronische Fußfessel?”
“Genau”, sagt die Frau Keuner. “Und dabei legt man die elektronische Fußfessel nur entlassenen Schwerverbrechern an, vor allem Sexualstraftätern. Das ist durchaus logisch. Aus Sicht der Bundesregierung waren ja alle Ungeimpften Straftäter. Aber sach, hast du die Coronatestfußfessel für einen Moment vergessen?”
“Nein, die Coronatestfußfessel war zwar unsichtbar, aber die hing mir wie ein Klotz am Bein.” Doch jetzt gibt es kein Halten mehr, es bricht aus mir heraus: “Warum haben die mich und meine jüngere Tochter gezwungen, uns testen zu lassen? Wir war doch beide nachweislich immun. Meine ältere Tochter hatte Delta, hohe Virenlast, und wir beide haben mit aller Kraft versucht, uns bei ihr anzustecken, aber es hat nicht geklappt. In der Nachbarschaft ist ein junger Mann krank geworden, obwohl er geimpft war. Der hat die ganze Familie angesteckt, obwohl oder weil die auch alle geimpft waren. Die haben es richtig heftig bekommen. Warum gab es kein großes I für immun. Wozu soll ich mich testen lassen, wenn ich immun bin? Ich konnte und kann alles bezeugen. Und in Frankreich durften wir ohne aktuellen negativen Test nicht einmal ins Café. Und das, obwohl wir immun waren. Ich hatte sogar das positive Testergebnis meiner älteren Tochter und unsere negativen dabei und den Beleg für die zweiwöchige Quarantäne.”
Die Frau Keuner lacht: “Was sollen denn die Franzosen mit Kölner Beweismaterial? Außerdem war General Macron doch genauso rigide. Die Franzosen haben mit der Testung von Touristen richtig viel Knete gemacht. Lisa, du bist ein Störfall.”
“Das weiß ich doch”, sage ich. “Aber etwas in mir hat darauf gehofft, dass der Dr. Nießen vom Kölner Gesundheitsamt auf mich zukommt und mich beglückwünscht, dass er mich fragt, wie ich als Frau über 60 es geschafft habe, mich nicht mit der gefährlichen Delta-Variante zu infizieren.”
“Hömma, Lisa, du bist dermaßen naiv. Du stellst die Zwangsmaßnahmen in Frage und erwartest auch noch Beifall. Aber jetzt mach ich einen Test mit dir. Wessen Haaransatz ist das?”


“Spahn? Beide Male?”
“Und jetzt vergleich mal die beiden Urlaubsbilder von Spahn und Ehemann aus den Jahren 2021 und 2023 miteinander. Im Sommer 2021 war der Spahn noch so doof, ein Selfie zu veröffentlichen. Beide tragen keine Sonnenbrille, auch der Spahn nicht, dabei ist der Spahn Bundesgesundheitsminister. Und jetzt kommt’s. Sein Ministerium hat im Frühjahr des selben Jahres ein Heft seiner kostenlosen Werbebroschüre “Im Dialog” herausgegeben. In Heft 6/April 2021 geht es fast nur um die Impfung, aber auf der Kinderseite (S.34) wird ausdrücklich vor zu viel Sonne gewarnt. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Ministerium/Broschueren/BMG_Dialog_1-2021_bf.pdf
Der Jens Spahn hat für die Broschüre sogar das Vorwort geschrieben. Doch warum hat er die Warnungen seines eigenen Ministeriums nicht ernst genommen? Guck dir noch einmal das Selfie an. Gesundheitsminister Jens Spahn hat Sonnenbrand, knallrote Stirn, knallroter Hals und knallrote Nase. Dat geht doch gar nicht. Wahrscheinlich wollten Spahn und Mann den Beleg dafür liefern, dass es auch in Bayern schön sonnig sein kann, aber doch bitte nicht so. Das sind Top-Fotos für den Pschyrembel.”
“Ein Sonnenbrand kann doch jedem passieren”, sage ich leise.
“Ja, aber doch nicht dem Bundesgesundheitsminister. Der Mann ist doch ein Vorbild, was eine gesunde Lebensweise angeht.”
“Ich kann das so aber nicht in meinen Blog setzen.”
“Zu Zwecken der Aufklärung”, sagt die Frau Keuner. “Als Diashow. Jetzt guck dir bitte das Foto von 2023 an. Das haben Profis gemacht. Mittlerweile hat der Spahn kapiert, dass man als Spitzenpolitiker nicht einfach ein Selfie schicken kann, nicht mit Sonnenbrand und schon gar nicht, wenn der Bundesrechnungshof auf der Matte steht. Das ist jetzt zwei Jahre her, niemand erinnert sich mehr. Sind ja zu viele verstrickt.” Die Frau Keuner trinkt noch einen großen Schluck Bier.
“Ich vermute, dass der Jens Spahn für das Selfie damals einen richtigen Anschiss gekriegt hat. Deshalb musste sich der Spahn einer Styling-Beratung unterziehen. Die Profis haben das Bild aus dem Jahr 2021 genau analysiert. Der Fotograf hat Spahn und Funke aus der prallen Sonne geholt und in den Halbschatten gestellt. Beide Männer tragen jetzt Sonnenbrillen. Das Bild ist auch nicht während einer Wanderung aufgenommen worden, sondern danach. Im Jahr 2023 haben sich die Jungs den Schweiß abgewaschen. Die Klamotten sind nicht mehr schweißgetränkt, sondern sauber. Man sieht, wie die Männer duften. Und da ist noch was.”
“Das Büschel auf Spahns Stirn? So kommt er seriöser rüber.”
“Das auch”, sagt die Frau Keuner. “Aber guck mal auf Spahns Hals. Genau da, wo der Spahn im Jahr 2021 Sonnenbrand hatte, ist zwei Jahre später der Hemdkragen hochgeklappt. Ganz schön schlau.”
“Jau.”
