Corona-müder Mai: Mein Schlaf gehört mir, oder?

Am Tag vor dem 1. Mai wurde mir gegen 20h schlagartig klar, dass ich noch nicht eingekauft hatte. Der Feiertag fiel auf einen Samstag. Die Lebensmittelläden würden geschlossen sein, und auch der Samstagsmarkt auf dem Wilhelmplatz würde nicht stattfinden.

Also setzte ich mich aufs Rad und fuhr zur Neusser Straße. Doch offenbar ging es vielen Leuten wie mir, denn vor den Lebensmittelläden hatten sich lange Warteschlangen gebildet. Die drinnen waren, ließen sich Zeit, froh, endlich im Laden zu sein. Ich fuhr die Neusser Straße rauf und runter, aber die Schlangen verkürzten sich nicht. So radelte ich weiter Richtung 60-Viertel.

Vor dem REWE an der Nohlstraße standen auf dem Parkplatz etwa 50 Personen, die alle eine Maske trugen und den Sicherheitsabstand einhielten. Die lange Menschenreihe verlief nicht gerade, sondern bog sich, damit auch alle auf dem Parkplatz einen Platz fanden, in einem großen S zu einer Menschenschlange, die sich langsam auf den Weg machte Richtung Eingang. Sind wir vollends zu Kriecher-Tieren mutiert? Ich muss an die sich abseilenden Raupen der Gespinstmotte denken. (s. https://stellwerk60.com/?s=raupe+nimmerallein&submit=Suchen). Empfindet Angela Merkel, die aus der DDR stammt und vor der Wende oft in der Warte-Schlange stand, eine stille Freude, uns dabei zuzusehen, wie wir um Einlass betteln?

Ich bin in einer Walpurgisnacht noch nie so früh schlafen gegangen – im sicheren Wissen, nichts zu verpassen. Kein gutes Gefühl. Ich bin nicht einmal mehr neidisch auf die, die zu den großen, rauschenden Festen eingeladen werden, denn die großen, rauschenden Feste gibt es nicht mehr, allenfalls dort, wo ich nicht hinwill, hinter den verschlossenen Türen der Führungsetagen. Ich bin nicht eingeladen, aber auch nicht ausgeladen. Ich sehne mich nach dem Aschenputtel-Gefühl. Doch wir, das Volk, dürfen unter Androhung drakonischer Strafen nicht einmal mehr Volksfeste feiern.

Seit der alte Fernseher endlich kaputt ist, schlafe ich gut. Meine Träume erzählen mir viel. Warum ist unser Unbewusstes in der Lage, Geschichten zu spinnen? Warum erfindet es Handlungen, warum kreiert es Personen, die sinnvoll agieren? Die irrwitzige Corona-Politik ist nur mit Humor zu ertragen, und da ich Komödiantin bin, träume ich kleine Komödien (s. https://stellwerk60.com/2021/01/27/elfchen-im-ersten-wir-geben-euch-staatssicherheit-ein-gedicht-von-angela-merkel-das-sie-mir-vortrug-wahrend-ich-traumte/).

Ich empfinde den Nachtschlaf als sicheren Raum. Mein Schlaf gehört mir, und da ich gut schlafe, komme ich nicht auf die Idee, Schlaftabletten zu nehmen. Der Nachtschlaf ist unantastbar. So dachte ich, bis…

… ich vorhin las, dass wir uns in den Schlaf „daddeln“ lassen können. Tatsächlich wurde „die App Somnio entwickelt, ein digitales Schlaftraining, das auf der kognitiven Verhaltenstherapie basiert und zur Behandlung von Schlafstörungen verwendet werden kann. Angeleitet wird das Training von Albert, einem virtuellen Schlafcoach.“ https://somn.io

Von der Katastrophe profitieren viele, nicht nur Masken-Händler, Impfstoff- und Test-Entwickler. Das Corona-Jahr 2020, das viele Menschen um den Schlaf gebracht hat, hat u.a. somnio auf die Start-UP -Sprünge geholfen. Die virtuelle Schlaf-Überwachung gibt es auf Rezept, und dieses Rezept können nicht nur Ärzte und Psychotherapeuten ausstellen, sondern auch Telemedizinanbieter wie Teleclinic und ZAVA. Die Kosten der „Behandlung“ übernimmt die Krankenkasse. somnio kommt sanft daher, denn somnio ist eine digitale Gesundheitsanwendung (DiGA). Mich gruselt’s.

Was in Aldous Huxley’s Roman „Brave New World“ noch Soma war, die den Verstand einschläfernde Droge, verabreicht man uns heutzutage weder intramuskulär noch oral. Somnio geht, ohne dass Haut oder Schleimhaut tangiert werden müssten, dennoch unter die Haut und in unser Gehirn, einfach so. Denn Somnio kommt digital.

In der Hoffnung, trotz Ausgangssperre Maibäume zu sehen, machte ich mich am 1.Mai gut ausgeschlafen mit Hund Freki auf den Weg. Und siehe da…

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Mit dem klassischen Maibaum hat dieses Bäumchen kaum noch etwas zu tun. Es wurde an der Absperrung oberhalb der Zufahrt einer Fahrrad-Tiefgarage am 30.4. vor 21h angebracht. Das Bäumchen macht uns aufmerksam auf ein kleines, umzäuntes Stück Wiese. Im Hintergrund sehen wir zwei wackere Exemplare der Felsenbirne. Im letzten, viel zu trockenen Sommer waren ihre schmackhaften Beeren  ungenießbar und schrumpelig.                                                                     Aufmerksame Naturfreunde von Nachbarn60 haben ein „Insektenhotel“ in die Buchenhecke gesetzt. Vom Beitrag, den wir Mitglieder an den Verein Nachbarn60 zahlen, werden die Materialien finanziert. Was bleibt, ist viel ehrenamtliche Arbeit. An dieser Stelle möchte ich mich bei Nachbar Frank entschuldigen. Schließlich hatte ich versprochen, ihn bei der Pflege des Wildblumenstreifens zu unterstützen. Ich habe gekniffen, pardon. Ich bin leider ungeschickt und ungeduldig, was Gartenarbeit angeht, werde mich aber melden.                                                                 Hund Freki hatte  übrigens nach einem Ausflug ins Naafbachtal am Lid-Rand des rechten Auges seine erste diesjährige Zecke. Abgefallen ist sie noch am selben Tag.

Im letzten Jahr hatte die Stadt Köln, um dem wilden Maibaumsetzen Grenzen zu setzen, eine Pressemitteilung herausgebracht:

„… Montag, 20. April 2020, 16:08 Uhr

Ordnungsamt kontrolliert Versammlungsverbot auch in der Mainacht

Der diesjährige Verzicht auf den Maibaumverkauf steht im Zusammenhang mit dem aktuell geltenden Versammlungsverbot. Das Ordnungsamt wird daher auch in der Nacht auf den 1. Mai sehr genau darauf achten, dass die Kontaktvorgaben eingehalten werden. Maifeiern oder ein gemeinschaftliches Maibaumsetzen mit mehr als den nach der Corona-Schutzverordnung erlaubten Personen werden daher in diesem Jahr nicht möglich sein. Das Ordnungsamt wird Verstöße gegen die Bestimmungen konsequent ahnden. Stadt Köln – Amt für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Jürgen Müllenberg…“ https://www.stadt-koeln.de/politik-und-verwaltung/presse/mitteilungen/21748/index.html

In diesem Jahr verzichtete die Stadt Köln auf eine Pressemitteilung. Für die Walpurgisnacht galt kein Versammlungsverbot, es gab auch kein Verbot von Maifeiern und kein Verbot des gemeinschaftlichen „Maibaumsetzens mit mehr als den nach der Corona-Schutzverordnung erlaubten Personen„. Es wurden keine einzelnen Verbote mehr ausgesprochen, weil ohnehin nichts mehr erlaubt war. Mit der bundesweiten Ausgangssperre ist die Walpurgisnacht abgeschafft worden.

Sind auch die traditionellen Mai-Kundgebungen abgeschafft worden? Auf meinem Abendspaziergang (nach 21h, aber mit Hund) höre ich mich um. In Köln, so erzählt mir ein Spaziergänger mit Hund, gab es eine Kundgebung auf dem Heumarkt – erwartungsgemäß mit Ausschreitungen und Festnahmen wegen zahlreicher Verstöße gegen die Corona-Verordnungen.

Doch wo war CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet? Es ist ja üblich, dass sich der Ministerpräsident auf einer zentralen Maikundgebung zeigt. Der Spaziergänger kann es mir auch nicht sagen. Ich äußere eine Vermutung: Wahrscheinlich gab es einen Laschet-Auftritt in der Landeshauptstadt – und zwar im Autokino.

„Unsinn“, sagt der Mann.

Ich begründe meine Vermutung. Im letzten Jahr waren die Ostergottesdienste ins Autokino verlegt worden, um die Gläubigen teilnehmen zu lassen. Ein Autokino in Düsseldorf hatte den Anfang gemacht, aber die Idee hatte schnell Nachahmer gefunden. Die Gottesdienst-Besucher mussten sich und ihren PKW im Vorfeld anmelden, damit man im Falle einer Infektion den Infektionsweg nachverfolgen konnte. So hätte man Laschet auftreten lassen können, ohne zu befürchten, dass er Opfer von Corona, von Buhrufen und anderen Anfeindungen werden würde. Im Gegenteil, ein aufmunterndes Hup-Konzert von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern wäre ihm sicher gewesen.

Der Herr mit Hund lacht mich aus. Die vielen Menschen, die an einer Mai-Kundgebung teilnehmen, seien doch die eigentlichen Akteure, sie seien doch keine Zuschauer. Der Redner sei nur ein Art Ehren-Gast. Es ginge doch um Solidarität, um die Menschen: „Wenn der Armin Laschet im Autokino auftritt, wird doch dem letzten klar, dass er nur Wahlkampf macht und an den Menschen nicht interessiert ist.“ Der Spaziergänger verabschiedet sich.

„Beantworten Sie mir bitte noch eine Frage“, sage ich schnell. „Was hätten Sie am 1. Mai gemacht, wenn Sie Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen wären?“

Der Mann überlegt kurz und sagt dann: „Wenn ich Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen wäre, würde ich den Menschen sagen, dass es mir leid tut, dass die Genossinnen und Genossen in diesem Jahr nicht wie gewohnt zusammenkommen können – Und dann würde ich solidarisch schweigen.“

„Ob der Laschet schweigen kann?“

„Aber ja“, sagt der Mann.

„Aber nein“, sage ich. „Um was wetten wir?“

Noch spät am Abend setze ich mich an den Rechner. Immerhin haben wir um eine Dose ROMEO für große Hunde gewettet. Und was erfahre ich? Tatsächlich hat die zentrale NRW- Mai-Kundgebung auf einem Düsseldorfer Messeparkplatz stattgefunden, der vor einem Jahr zu einem Autokino umfunktioniert worden war. Ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Abend-Spaziergang.

Freundlicherweise hat der DGB ein Video ins Internet gestellt. Laschets Auftritt beginnt nach etwa 50 Minuten und dauert bis ca 1:16:20.

Zwei Vertreterinnen der DGB-Jugend überreichten Laschet ein überdimensionales „Hausaufgabenheft“ (1:13:00). Eine abgeschmackte Idee – und die beiden jungen Frauen umschmeichelten ihren Landes-Vater auch noch mit anbiedernden Worten: „Wir haben gehört, Sie streben die Versetzung ins Kanzleramt an, da haben wir gedacht, da gibt’s noch einiges zu tun.“ Dass der DGB so offen CDU-Wahlwerbung macht, finde ich kaum noch erträglich.

Jens Schneider, ein Journalist der Süddeutschen Zeitung und vermutlich kein CDU- Sympathisant, hat ein schönes Stimmungsbild verfasst, das ich hier gerne zitiere: „… Es ist eines der merkwürdigen Bilder, die später als Symbol für diese schwierige und auch bizarre Zeit dienen könnten. Eine Kundgebung an diesem Samstag zum Tag der Arbeit, in Corona-Zeiten: ein Autokino in Düsseldorf, vor einer Bühne stehen Autos in Reihen, in denen die Teilnehmer der Mai-Demo sitzen. Mehr Sicherheitsabstand zu den Nebenleuten geht kaum. Einige haben Gewerkschaftsfahnen dabei, die über dem Auto im Wind flattern, und wenn ihnen auf der Bühne etwas gefällt, lassen sie ihre Hupe ertönen. Und man kann im Internet zuschauen.https://www.sueddeutsche.de/politik/laschet-dgb-kanzlerkandidat-1.5281235

Dass Laschet eine rote Maske trug, bleibt nicht unerwähnt – eine überdimensionale Pappnase.

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