Es gibt ein munteres Kinderlied, das modern klingt, aber schon über hundert Jahre alt ist: “Hörst du die Regenwürmer husten? Ahua, uha. Wie sie durchs dunkle Erdreich zieh’n. Wie sie sich winden und dann verschwinden, auf nimmer nimmer Wiederseh’n. Und wo sie waren, da ist ein Loch, Loch, Loch. Und wenn sie wiederkommen, ist es immer noch, noch, noch...”
Autor des Textes ist der evangelische Pfarrer und Dichter Georg Christian Dieffenbach (1822-1901). In der schmissig-heiteren Vertonung aus dem 20. Jahrhundert – nach der Melodie des Lieds Get Me to the Church On Time aus dem Musical My Fair Lady– wurde (und wird) das Lied nicht nur von Kindergartenkindern gesungen, sondern auch von marschierenden Bundeswehrsoldaten (und mittlerweile leider auch -innen), zu deren Repertoire zahlreiche Volks-, aber auch Kinderlieder gehören. Das Schuhwerk der Marschierenden ist so robust, dass der Regenwurm, dem die Uniformierten bei feuchter Witterung häufig begegnen, ihnen nichts anhaben kann.
Ich muss zugeben, dass mir Regenwürmer nicht ganz geheuer sind. Ich nehme die haarlosen, sich windenden Zwitter-Tierchen nicht gerne in die Hand, was ich aber manchmal tun muss, denn nach einem sommerlichen Regenschauer sind die Wege in der autofreien Siedlung in der Regel mit Regenwürmern übersät, die die Orientierung verloren haben.
Wir Menschen bringen Würmer mit Tod und Verwesung in Verbindung und nicht mit Leben und Blüte. Vor den Maden, den Larven der Fliegen, ekeln wir uns. Maden sind gefräßig. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich bis ins späte 19. Jahrhundert das Vorurteil hielt, dass Regenwürmer Schädlinge sind und Pflanzen anfressen. Die meisten Menschen konnten nicht glauben, dass die Regenwürmer für die Fruchtbarkeit des Ackerbodens unerlässlich sind. Warum war ausgerechnet der schnöde Regenwurm wichtig, und warum sollten ausgerechnet seine Ausscheidungen für das Gedeihen und den Ertrag der Pflanzen von elementarer Bedeutung sein?
Selbst der Gott der Bibel ist nicht vorurteilsfrei. Im Gegenteil: Er redet abschätzig über “alles Gewürm des Erdbodens”. “Füllet die Erde“, sagt er zu Adam und Eva (mit Menschen!), “und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.” (Gen 1,28, Luther-Bibel, https://www.die-bibel.de/bibeltext/1.%20Mose%201,28/)
Gottes Geringschätzung gegenüber den Kriechtieren kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass er die Schlange zum kriechenden Tier degradiert: “14Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht vor allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Staub fressen dein Leben lang. 15Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.” https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lesen/LU17/GEN.3/1.-Mose-3
Schlangen bewegen sich lautlos und sind Meisterinnen im Sich-Verbergen. Sie scheinen aus einer anderen Welt zu stammen. Schlangen nehmen Schallwellen wahr, aber auch feinste Boden-Vibrationen. Dass sie Sinne haben, über die wir Menschen nicht verfügen und für die wir keinen Namen haben, macht sie uns unheimlich. Auch dass Schlangen keine Beine brauchen, um sich am Boden (elegant!) fortzubewegen.
Den Menschen, die lebten, als die Texte der Genesis verfasst wurden, dürfte nicht entgangen sein, dass Schlangen gut klettern können, insbesondere die Äskulapnatter, die sich in der griechischen Mythologie um den Wanderstab des Gottes der Heilkunde windet, Asklepios (Äskulap”). Die Äskulapnatter, heute noch Symboltier für den ärztlichen Beruf, liebt es, sich auf Bäumen zu verbergen. Auch das ist uns Menschen nicht ganz geheuer. So ist es nicht verwunderlich, dass der Gott der Genesis die Schlange vom Baum holt.
In der Paradies-Geschichte ist die Schlange das Böse schlechthin, die Lügnerin, die Verführerin. Doch Gottes Furor richtet sich nicht gegen ein einzelnes Tier, sondern gegen die Unberechenbarkeit der Natur, die sich in der geheimnisvollen, vieldeutigen Schlange manifestiert. “Die Schlange ist ein Ursymbol”, schreibt Ingrid Olbricht (1935-2005), “… in fast allen Kulturen spielt sie in Mythen und im Brauchtum eine große Rolle. So bedeutete die Schlange einerseits Leben, Erneuerung, Verjüngung, Häutung, Auferstehung und andererseits Tod, Gift und Zerstörung. Sie symbolisierte die schöpferische Kraft der Erde. Sie war Begleiterin der Großen Mutter, geheimnisvoll wie sie, rätselhaft, intuitiv, eine unkontrollierbare, undifferenzierte, unerschöpfliche Lebenskraft. Weiterlesen: https://www.arbeitskreis-frauengesundheit.de/wp-content/uploads/2015/07/Symbol_der_Schlange.pdf (unbedingte Lese-Empfehlung!)

Abgestreiftes “Natternhemd”: Eine Freundin meiner älteren Tochter lebt in den Tessiner Bergen. Im Frühjahr 2022 hat sie direkt unter ihrem Fenster eine Schlangenhaut gefunden, die vermutlich, wie an der “Kopfbekleidung” zu erkennen ist, von einer Ringelnatter stammt. Bei der Schlange dürfte es sich um ein älteres Weibchen handeln, denn die abgestreifte Haut ist über einen Meter lang. Anders als etwa bei den Äskulapnattern ist bei den Ringelnattern das weibliche das wesentlich größere Tier. Das Bild ist der Ausschnitt eines Fotos, das meine Tochter, die zufällig dort war, mit dem Smartphone gemacht hat.
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Wenn auch zahnlos und weniger vieldeutig, so ist der “Gemeine Regenwurm” ebenfalls ein altes Symboltier: “In den frühen Epochen unserer Geschichte glaubte man, dass der Regenwurm über besondere Heilkräfte verfüge. Im Schamanismus galt er als Krafttier, das für Erneuerung und Heilung stand. Er diente als Orakel und beliebte Zutat für Zaubereien und Rituale. Im alten Ägypten wurde der Regenwurm sogar heiliggesprochen und stand unter dem Schutz von Königin Cleopatra.” http://www.regenwuermer.info/regenwurm/bedeutung-bodenverbesserung.php
Die ersten Hinweise auf den großen praktischen Nutzen der Regenwürmer stammen aus dem 18. Jahrhundert. Der englische Schriftsteller und Naturforscher Gilbert White (“The Natural History and Antiquities of Selborne, 1789″) stellte dar, auf welche Weise der Regenwurm den Ackerboden lockert und somit die Entwicklung der Pflanzen fördert. Wissenschaftlich untermauert wurde die Bedeutung der Regenwürmer aber erst im 19. Jahrhundert, und zwar insbesondere durch Charles Darwin, der von White beeinflusst und beeindruckt war.
“Der bekannte englische Naturforscher Charles Darwin hielt bereits 1837 vor der Geologischen Gesellschaft von London einen Vortrag über die Bedeutung der Regenwürmer bei der Bodenbildung („On the Formation of Mould“). Aber erst 1881 veröffentlichte er seine langjährigen und umfangreichen Beobachtungen in dem Buch „The Formation of Vegetable Mould through the Action of Worms, with Observations of their Habits“ (deutsch: „Die Bildung der Ackererde durch die Thätigkeit der Würmer”), das von Biologen und Bodenkundlern als Grundlagenwerk der Bodenbiologie gewürdigt wird (vgl. GRAFF 1983, S. 30/31).” https://hypersoil.uni-muenster.de/1/02/49.htm
Darwin sollte, nachdem er von seiner mehrjährigen Reise mit der Beagle zurückgekehrt war, England nie mehr verlassen. Doch auch das Leben der hier heimischen Lebewesen ist Teil einer universalen Naturgeschichte. So beobachtete Darwin seine unmittelbare Umgebung und studierte die Evolution sozusagen im eigenen Garten, wobei der englische Regen seinen Studien zugute kam.
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Wenn der stille, gehörlose, lediglich leise schmatzende Regenwurm (wissenschaftlicher Name: Lumbricus terrestris) auch im Erd-Reich verschwindet, kommt er dennoch immer wieder ans Licht, dann nämlich, wenn es regnet und er in seinen unterirdischen Höhlen und Gängen zu ertrinken droht. Jetzt aber begegnet er einem Tier, das nicht nur Regen mag.
Die Regenwürmer haben einen Fressfeind, den ich zum Lauschen gerne hab. Singvögel, die im Laufe der Evolution komplexe Melodien entwickelt haben, existieren seit 33 Millionen Jahren. Wir Menschen lauschen ihnen nicht nur, sondern ahmen seit jeher ihren Gesang nach. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass wir unsere Liebeslieder auch den Regenwürmern verdanken.
Amsel
Drossel, Fink
und Star, unsere
Liebeslieder waren vor uns
da

Sommer 2022: Dieses Amselmännchen widersteht dem Impuls, die Rosine direkt zu verzehren. Es wartet so lange, bis das Jungtier auch eine Rosine aufgepickt hat. Dieser “Ästling” wurde schon als “Nestling” mit (ungeschwefelten) Rosinen gefüttert, die wir auf die Terrasse gestreut hatten, deshalb mag er sie sehr. Im letzten Sommer habe ich mehrmals beobachtet, wie das fütternde Amselmännchen zusätzlich zu den Würmern oder Insekten, die es im Schnabel hatte, noch Rosinen aufgepickt hat. Ein Balanceakt!
Dieses Jungtier hat zwar vor etwa zwei Wochen das Nest verlassen, braucht seine Eltern aber immer noch. Doch mittlerweile kriegt es das Futter nicht mehr einfach so in den offenen Schnabel gestopft. Her zeigt ihm sein Vater, wie eine Amsel es macht.
