Elfchen im Vierten: “Kleiner Ästling”

Vor einiger Zeit las ich ein Interview mit einem Paartherapeuten namens Eric Hofmann. Darin ging es um einen neuen Promi-Trend, die sogenannte “Sologamie”, die Heirat mit sich selbst. Was wie ein Gag aus einem Woody Allen- Film klingt, wird tatsächlich praktiziert, vor allem von Frauen um die 30. So soll Pop-Star Selena Gomez (30) vor ein paar Monaten Pop-Star Selena Gomez (30) geheiratet haben. 

Nun können es die meisten Medien-Promis in (der) Wirklichkeit keinen Moment alleine aushalten. Sie wetteifern um permanente öffentliche Aufmerksamkeit und sind sich selber längst abhanden gekommen. “Sologame” merken nicht, dass die “Sologamie” zwar ein hübsches Gesellschafts- und Medienspiel ist, als “lustige” Selbstzurschaustellung aber ein Schlag in den Nacken derjenigen, die wirklich alleine sind. Ein einsamer Mensch käme wohl kaum auf die Idee, sich selber zu heiraten.

Obwohl die “Sologamie” nicht viel mehr ist als ein Werbegag, nimmt Paartherapeut und Buchautor Eric Hofmann den Trend sehr ernst. Wohl aus beruflichem Interesse, denn wenn der Mensch solo ist, gibt es kein Paar mehr – und dementsprechend keine Paartherapie. Auch der Ehe stellt Hofmann ein eher nüchternes Zeugnis aus, ebenfalls aus beruflichem Interesse, denn Eheleute, die nach vielen Jahren immer noch harmonieren und sich nicht miteinander langweilen, brauchen keine Paartherapie. Hofmann: “Hier muss auch noch einmal deutlich gemacht werden: Die Ehe als romantisches Modell ist eine sehr neue Erfindung. Bis vor wenigen Hundert Jahren wurde nicht aus Liebe geheiratet. Liebe war im Gegenteil als Sicherheitsrisiko für diese vor allem wirtschaftliche und für Frauen existentielle Verbindung verpönt.https://web.de/magazine/liebe-partnerschaft/paartherapeut-interview-sologamie-37730146

Doch was sagen unsere Singvögel dazu, die gattungsgeschichtlich viel älter sind als wir? Führen Wild-Vögel, die in beeindruckender Zweisamkeit liebevoll ihren Nachwuchs umsorgen, nicht auch eine Art (wilder) Ehe? Wie wir wissen, leben Amseln überwiegend monogam und bleiben in der Regel über mehrere Brutperioden zusammen. Mich haben die Amseln gelehrt, dass die Ehe weder ein “romantisches Modell” ist noch “eine sehr neue Erfindung”, noch, dass Menschen sie kreiert haben.

Wenn der Amsel-Mann im frühen Frühling sein wohlbekanntes Lied anstimmt, tut er es nicht, um die Amsel-Frau für sich zu gewinnen. Das muss er nicht, denn sie hat sich schon vor Jahren für ihn entschieden. Und doch bringt er sich singend in Erinnerung: Weißt du noch?

Manchmal singt der Amsel-Mann, um sich vor Nebenbuhlern zu brüsten, doch eigentlich singt er aus Liebe, nicht nur zur Amsel-Frau. Er singt aus schierer, unbändiger Frühlings-, Fortpflanzungs- und Lebensfreude. Denn nicht nur seine Frau ist ihm treu. Wenn die Welt wieder grün wird, wenn alles blüht, wenn das Gras wieder wächst und die Knospen platzen, dann weiß die Amsel: Auf den Frühling kann ich mich verlassen.

Die unauffällige Amsel-Frau hält sich im Hintergrund, aber sie hat die Fäden in der Hand beziehungsweise im Schnabel…

Schon Mitte März trägt die Amsel-Frau Material zusammen, um, wie es ausschaut, ein Nest zu bauen, zu unserer Freude im immergrünen Efeu, der direkt hinter der noch kahlen Buchenhecke unseren Gartenzaun überwuchert. Nach ein paar Tagen scheint das Nest fertig zu sein, denn die Amsel-Frau verschwindet -ohne was im Schnabel zu haben- immer wieder im dichten Grün. Ob sie Eier legt? Das Nest ist so gut versteckt, dass man es nur erahnen kann. An einem Abend, als beide Eltern-Tiere ausgeflogen sind, stelle ich mich auf einen Hocker, mache den Arm lang, greife vorsichtig dorthin, wo ich das Nest vermute, und ertaste drei eng beieinander liegende Eier.

Das Nest ist winzig, aber ein Junges überlebt.

Die deutsche Sprache hält für Singvogel-Küken zwei schöne Wörter parat. Küken, die noch im Nest hocken, sind “Nestlinge”. Wenn sie das Nest verlassen haben, sich aber noch nicht selbstständig versorgen können, nennt man sie “Ästlinge”.

Dabei hat es zunächst nicht gut ausgesehen. Der Amsel-Vater verletzt sich und steht und hüpft nur noch auf einem Bein. Das Abheben, Fliegen und Landen klappt, aber das Rosinen-Picken ist so anstrengend, dass er sich zwischendurch ausruhen muss. Ohne die Kooperation beider Eltern kann ein Amsel-Küken nicht überleben. Wird der Amsel-Vater rechtzeitig wieder gesund sein?

Eine Woche vor Ostern steht der Amsel-Vater wieder auf beiden Beinen. Abwechselnd mit der Mutter-Amsel fliegt er mit Futter im Schnabel das Nest an. Ein gutes Zeichen: Mindestens ein Junges muss geschlüpft sein.

17.4.2023: Eine Woche nach Ostern fliegen die Amsel-Eltern das Nest nicht mehr an. Das Jungtier hat das Nest verlassen. Noch am selben Tag zeigt es sich uns.


Flüssigkeit ist für das Jungtier überlebensnotwendig. Doch es muss erst lernen, dass es Wasser nicht verschlingen darf, sondern schlucken muss. Daher ist es gut, dass ein Regenwurm, wie ich lese, zu 90% aus Wasser besteht. Dass ausgerechnet der Sänger mit dem goldenen Schnabel mit eben jenem Schnabel die Würmer zerhackt, schmerzt mich. Zum Trost sage ich mir: Die Amsel handelt aus Eltern-Liebe. Und sie wird nur so viele Regenwürmer zerkleinern und verfüttern, wie das Jungtier zum Großwerden braucht.

Wenn ein Fressfeind ihr Junges bedroht, zögern Amsel-Eltern nicht lange. Sie sind so sehr eins mit ihrem Jungtier, dass sie nicht nur ihr Küken, sondern mit dem Küken sich selber verteidigen. Ich beobachte, wie Männchen und Weibchen gemeinsam schreiend und pickend eine Elster vertreiben und ein anderes Mal die dicke Nachbarkatze, eine gute Jägerin, die meiner Nachbarin einmal ein frisch erlegtes Jungkaninchen serviert hat.

Auch wir Menschen kennen das: Elternliebe setzt ungeheuerliche Kräfte frei. Wir sind da besonders menschlich, wo wir den Tieren am ähnlichsten sind.

Ob Mensch oder Amsel: Elternliebe ist schön, aber anstrengend. Die Amsel-Eltern wirken tagelang hektisch und nervös. Während das Mutter-Tier immer noch einen klaren Kopf behält, überreagiert der Amsel-Vater und vertreibt sogar die freundlichen Tauben.

Dann ist mit einemmal alles wie früher. Von einem Tag auf den anderen wirken die Amsel-Eltern entspannt, sie essen die Rosinen selber und haben keine Würmer mehr im Schnabel. Was kann das bedeuten, wo ist “Kleiner Ästling”?

Doch nach drei Tagen…

Noch ist “Kleiner Ästling” nicht in der Lage, die Rosinen aufzupicken. Doch der Amsel-Vater ist geduldig. Sein Junges darf noch einmal (oder zweimal, oder dreimal…) den Schnabel aufreißen.
Suchbild mit Jungtier. Wo ist “Kleiner Ästling?”

Offenbar haben die Amseln ein genaues Gespür für den Moment, wo das Jungtier groß genug ist und in der Lage, sich selber mit Futter zu versorgen und sich vor Fressfeinden zu schützen. Sein Instinkt ist dem Jungtier angeboren, aber es muss noch in seine Aufgabe (Leben und Leben geben) hineinwachsen.

Ihr Instinkt verleiht der Amsel Sicherheit. Niemand muss einer Eltern-Amsel sagen, was sie zu tun hat. Sie zwitschert auf Rechte und Pflichten.

Über

Nachfragen, wer

das Brut-Sorgerecht hat,

lacht die Amsel sich

schlapp

2 Gedanken zu „Elfchen im Vierten: “Kleiner Ästling”

  1. ganz genau! Sie singen, weil´ sie´s gerne tun. Und sie lieben einander. Ich bin überzeugt davon, dass sehr viele Tiere sehr viel aus reiner Freude tun und durchaus nicht alles zweckgebunden ist. 🙂

    • Anders als die Tiere denken die meisten (nicht alle!) Menschen viel zu sehr zweckgebunden. Wenn kleine Kinder Warum-Fragen stellen, ist das schlau. Wenn sie zum Beispiel fragen: “Krieg ich ein Eis?”, sagen die Eltern entweder JA oder NEIN.
      Wenn aber die Kinder fragen: “Warum singen die Amseln?”, müssen sich die Eltern mit der Antwort ein bisschen mehr Mühe geben. Naturwissenschaftlich orientierte Eltern, die die Kinder “aufklären” wollen, sagen: “Nur die männliche Amsel singt, und zwar, um das Weibchen zu beeindrucken, denn er will sich mit ihr paaren.”
      Und dann gibt es Eltern, die die Phantasie ihrer Kinder anregen wollen und sagen: “Sie singen, weil sie´s gerne tun. Und sie lieben einander.”
      Liebe Beate, ich danke dir herzlich für deinen wunderschönen Kommentar!

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