Comeback der KNÜPPELKUH – Vom Leben im “Luftabschneider”

Kaum jemand hat die autoritäre Pädagogik so plastisch dargestellt und wunderbar karikiert wie der walisisch-norwegische Autor Roald Dahl. In seinem Roman “Matilda” aus dem Jahr 1988 macht er uns bekannt mit Fräulein Agatha Knüppelkuh (im Original: Miss Agatha Trunchbull).

Als sie endlich in die Schule gehen darf, erfüllt sich für Matilda, ein äußerst intelligentes, wissbegieriges Mädchen mit “bildungsfernen” Eltern, ein Traum. Doch die Direktorin der Schule heißt “Fräulein Knüppelkuh”. Fräulein Knüppelkuh mag keine Kinder, und ihr gefällt es gar nicht, dass Matilda so klug ist. Die Knüppelkuh ist groß und stark und war einmal Olympiateilnehmerin im Hammerwurf. Jetzt wirft sie Kinder aus dem Fenster. Einmal fasst sie ein winziges Mädchen an den blonden Zöpfen und schleudert es durch die Luft. Widerständige Kinder sperrt sie in den “Luftabschneider”, eine dunkle Kammer, an deren Innenwänden riesige spitze Nägel angebracht sind… Das Buch hat ein Happy End – ebenso wie die schöne Verfilmung aus dem Jahr 1996.

Schon im Jahr 1988, als “Matilda” veröffentlicht wurde, gab es nur noch vereinzelt Knüppelkühe. Es hatte sich -gewiss auch in England- viel geändert, die Grundschulen und Kindergärten waren liberaler geworden, in der Regel herrschte ein freundlicher Umgangston. Auf der katholischen Grundschule, in die zwischen 2002 und 2009 unsere Töchter gingen, waren die Kinder gut aufgehoben. Die Schulleiterin war das Gegenteil einer Knüppelkuh. Elisabeth Koßmann kannte alle Schüler beim Namen, war tolerant und weltoffen und hatte auch für uns Eltern immer ein offenes Ohr.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts war das noch anders. Im Jahr 1961 kamen meine Zwillingsschwester und ich in einen katholischen Kindergarten. Den Erzieherinnen war damals (fast) alles erlaubt. In den Schulen gab es noch die Prügelstrafe, und erst 1972 wurde das Züchtigungsrecht der Pädagogen bundesweit abgeschafft. Während einer Schulmesse “empfing” ich selber einmal zusammen mit der Hostie einen priesterlichen Backenstreich, weil ich mit meiner Freundin gequasselt und (leise!) gelacht hatte.

Unsere Kindergarten-Erzieherin hieß Tante Elfriede. Fotos zeigen eine kräftige Frau mit dunklen, streng nach hinten gebürsteten Haaren und einem mächtigen Dutt, die mit der Filmfigur der Agatha Knüppelkuh eine frappierende Ähnlichkeit hat. Tante Elfriede war furchtbar streng. Morgens früh mussten wir Kinder erwärmte Milch trinken. In unseren Tassen bildeten sich Milchhäutchen, und auf eins, zwei, drei … mussten wir die Häutchen in den Mund stecken und runterschlucken. Obwohl ich hätte kotzen können, machte ich mit – und mag bis heute keine frische Milch trinken.

Aber das Schlimmste waren die Drohungen. Tante Elfriede drohte gerne damit, “böse Kinder” in den dunklen Keller zu verbannen. In einem Koffer bewahrte sie diverse pädagogische Utensilien auf. Gerne zeigte sie uns eine Hülle aus Leder. Diesen “Lederdaumen”, so kündigte sie an, würden Kinder, die wiederholt am Daumen lutschten, übergestreift bekommen. Ein großes dunkles Pflaster, das sie uns manchmal vorführte, war dazu da, schwatzhaften Kindern den Mund zu verkleben. Ich beschloss zu schweigen. Als meine Mutter dreißig (!) Jahre später zufällig Tante Elfriede auf dem Wochenmarkt traf, fragte Tante Elfriede meine Mutter: “Sagen Sie, ist Elisabeth immer noch ein so stilles Kind?”

Tante Elfriede hatte, so denke ich, das Gefühl, uns Kindern Gutes zu tun. Ihre autoritären Erziehungsmethoden waren die, die sie in ihrer Ausbildung zur Kindergärtnerin gelernt hatte. Und die pädagogischen Hilfsmittel wie Maulpflaster und Lederdaumen gehörten vermutlich zur Standardausrüstung (nicht nur) katholischer Kinder- und Jugendeinrichtungen. Tante Elfriede kannte es nicht anders. Ja, sie mochte Kinder.

Bottrop 1963, Sommerfest im katholischen St.Elisabeth-Kindergarten. Zur Feier des Tages tragen wir Mädchen feine Kleidchen oder kurze Röcke und haben Schleifen im Haar. Meiner Schwester und mir hat meine Mutter, die gerne gelacht hat und einen großen Spaß daran hatte, ihren ungleichen Zwillingen gleiche Klamotten anzuziehen, Zierschürzen umgebunden. Unsere Haare sind kurz geschnitten, was 1963 auch für Mädchen modern war. Es ist gar nicht so einfach, die Schleife nicht zu verlieren.
Hier “balancieren” wir auf der hölzernen Umrandung des Sandkastens. Tante Elfriede hält mit der linken Hand meinen Unterarm fest und tätschelt mich mit der rechten. Sie dürfte einen Satz gesagt haben wie: “Das machst du aber gut, Elisabeth.” Auch wenn Tante Elfriede furchtbar autoritär war, meinte sie es doch gut mit den Kindern.

Das Gebaren der Bundespolitiker, uns Bürgerinnen und Bürgern zu unser aller Wohl das Leben zu beschneiden, ist eine autoritäre Anmaßung. “Das Virus kennt keine Feiertage”, sagte Angela Merkel vor Ostern. Als ich diesen neckischen, spießigen Satz hörte, den sie zu allen Bürgerinnen und Bürgern sagte, zu den Kindern wie zu den Erwachsenen, wusste ich: Es ist wieder soweit. Wir erleben das Comeback der Knüppelkuh, wir erfahren autoritäre Maßnahmen, die so unangemessen und so brutal sind, dass sie uns die Luft zum Atmen nehmen und die Lebenslust rauben. Das pädagogische Pflaster der Tante Elfriede ist -wenn auch als Maskenpflicht- traurige Wirklichkeit geworden.

 

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Foto und Haarschnitt: Selfie

Nachtrag: Ich wollte gestern auf den Kommentar von Puerzelchen antworten, aber wordpress hat meinen Kommentar “geschluckt”, warum auch immer, gewiss nicht “in böser Absicht”. Deshalb veröffentliche ich meinen Kommentar an dieser Stelle:

“... Herzlichen Dank für den Hinweis! Dass Würzburger Ärzte zwangsverpflichtet wurden, hatte ich mitbekommen, mir aber die Tragweite nicht bewusst gemacht. (Ich habe heute viel dazu gelesen und vorhin einen Artikel „ausgegraben“, der plastisch darstellt, was passiert ist. https://www.sueddeutsche.de/bayern/coronavirus-wuerzburg-zwangsverpflichtungen-aerzte-altenheim-1.4881314 ) Was ich erschreckend finde: Diese Zwangsverpflichtung ist zur Zeit sogar legitim (zumindest in Bayern) und wurde durch den Leiter der „Führungsgruppe Katastrophenschutz (FüGK)“, die im „Katastrophenfall“ eingerichtet wird, abgesegnet. Katastrophenschutz ist Ländersache, daher hat jedes Bundesland ein eigenes Katastrophenschutzgesetz. Das ist eigentlich nicht unvernünftig, weil ja viele Katastrophen, etwa eine Hochwasserkatastrophe, regional begrenzt sind.

Im Falle der bundesweiten Corona-Krise sehen wir, dass es riskant sein kann, dass ein einzelnes Bundesland mit dermaßen großen Kompetenzen ausgestattet ist, denn es berechtigt die Politik zu meiner Meinung nach unverantwortlichen und undemokratischen Maßnahmen. Die Ausrufung des Katastrophenfalls für Bayern durch Innenminister Joachim Herrmann (CSU) am 16.3.2020 geschah, so denke ich, kopflos und übereilt. So schafft man Tatsachen mit unabsehbaren Folgen. Ganz schnell wurde mit Berufung auf § 4 KatSchutzG (Bayerisches Katastrophenschutzgesetz) aus einer Krise eine Katastrophe gemacht: “Die Katastrophenschutzbehörde stellt das Vorliegen und das Ende einer Katastrophe fest.” Die Öffentlichkeit wurde dabei total überrumpelt.

Die Stadt Halle hat bereits zu Ostern den Katastrophenfall aufgehoben. Anstatt sich daran ein Beispiel zu nehmen, bleibt Bayern hart. Wohin auch mit dem riesigen, in aller Eile aus dem Boden gestampften Katastrophenapparat? Die „Führungsgruppe Katastrophenschutz“ braucht Katastrophen-Nachschub. Immerhin: Söder verspricht Auflockerungen zum Muttertag. „Er sagte im BR-Fernsehen, ihm sei wichtig, zum bevorstehenden Muttertag wieder Besuchs-Möglichkeiten für Mütter und Großmütter zu schaffen.“ (BR)

4 Gedanken zu „Comeback der KNÜPPELKUH – Vom Leben im “Luftabschneider”

  1. Ich habe während einer Kinderkur mal eine Backpfeife von einer Ordensschwester bekommen, das war 1978, weil ich meinen Pflichtbecher Heilwasser ex und hopp getrunken hatte und früher als die anderen, das leere Gefäß zurückgeben wollte, was die Nonne als Aufforderung verstand nachzuschenken. Erschrocken zog ich den Becher zurück und so landete ein Schwall heiliges Wasser, das, meine ich zu erinnern, Rakozzi hieß und nach Schwefel schmeckte, auf dem Boden – was mir die Ohrfeige einbrachte.
    Man hat´s nicht leicht, als Kind nicht und groß auch nicht. Immer sind ein paar Regelwächter um den Weg, die ihre Ordnung durchdrücken.

    • Ich hab mal die Suchmaschine “angeworfen”: Es muss sich um Heilwasser aus der Rakoczy-Quelle gehandelt haben, das man sich im Bayerischen Kurort Bad Kissingen sogar öffentlich abzapfen kann. So ein Kurort nennt sich heute nicht mehr nur “Bad”. Mit folgendem Spruch bewirbt sich die Stadt Bad Kissingen aktuell als einer von elf Kurorten aus sieben europäischen Ländern um die Aufnahme auf die UNESCO-Welterbeliste: „Vom Weltbad zum Gesundheitsstandort für gesunden Lebensstil und mentale Gesundheit.“ Drei Wörter mit “gesund”: Kann so viel Gesundheit noch gesund sein? Für den Wellness- und Gesundheitstourismus der Stadt Bad Kissingen unbedingt. Mit kaum etwas wird so viel Geld gemacht wie mit dem Versprechen von Gesundheit und Heilung. Die Entscheidung, ob Bad Kissingen in die Welterbeliste aufgenommen wird, fällt im Sommer 2020 auf der Sitzung des UNESCO-Welterbekomitees – wenn die nicht ausfällt.

      • Hey – krass! Ja, das war in Bad Kissingen. Da war ich mit zehn Jahren sechs Wochen zur Kur. Naja. Es war eigentlich ganz gut. Sogar die Nonne mochte ich im Großen und Ganzen gern. Sie hat danach um Entschuldigung gebeten, es sei ihr so die Hand ausgerutscht. Rakoczy. Klang immer bisschen wie Kotze. Hat auch voll übel geschmeckt. Naja. Ich schätze, ich komme – auch gesundheitlich – ganz gut ohne aus 🙂

  2. Ich bin dankbar, dass wir hier bisher nicht Verhältnisse wie in anderen Ländern haben, wo medizinisches Personal reihenweise stirbt. Dafür verzichte ich gerne und freiwillig. Diese Option der Freiwilligkeit hatten wir alle, viele haben sie aus Egoismus nicht genutzt. Ich bin dankbar, dass ich nicht zwangsverpflichtet werde, mein Leben mit unzureichendem Schutz in der Pflege Coronarkranker aufs Spiel setzen zu müssen (wie Ärzte in Würzburg) und ich will die Menschen schützen, die das tun, mit allem, was ich kann. Ja , das heisst verdammt viel Verzicht, dass heisst Kartoffelpüree mit Dosengemüse, weil man keine Einnahmen hat, das heisst Verzicht auf Hobbies und Kontakte, aber das mache ich gerne. Hätten alle Menschen in Deutschland diese Einstellung, bräuchten wir keine Vorgaben von oben. Machen sie aber nicht, traurig, und dann beschweren sie sich, wenn zum Schutz von Ärzten und Pflegenden und Risikogruppen alle ein klitzekleines bisschen eingeschränkt werden. Mich ekelt diese Einstellung an! Erwachsen sein heisst für mich, mit Freiheit umgehen zu können, Rücksicht zu nehmen, zu verzichten, auch wenn es weh tut!

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