Meine Tante Luise wohnt seit 15 Monaten im Bottroper Seniorenheim St. Hedwig, einem Haus der Caritas. Luise ist mittlerweile bettlägerig. Dass sie sich trotzdem wohl fühlt und die Lebenslust nicht verloren hat, hat vor allem einen Grund: Das leckere Essen. Das Essen, das ihr ans Bett gebracht wird, schmeckt Luise ausgesprochen gut, denn es kommt nicht von auswärts, sondern wird in der Küche von St. Hedwig frisch zubereitet. Luise sieht fast nichts mehr, hat aber noch Appetit und einen guten Geschmackssinn.
Das rigorose Corona-Besuchsverbot hat ihr nicht viel anhaben können. Luise wohnt in einem Doppelzimmer, so dass sie immer Gesellschaft hat. Es könnte auch anders sein, aber die Zimmernachbarin und Luise verstehen sich prächtig. Luise lebt nach mehreren leichten Schlaganfällen nicht mehr nur in der Gegenwart, sondern auch in der Vergangenheit. In Kontaktverbots-Zeiten ist das gut, denn in ihrer Phantasie empfängt Luise, die lockdown-bedingt zur Zeit keinen Besuch haben darf, tagtäglich Besucher. Alle Verwandten kommen sie besuchen, die Lebenden wie die Toten. Man unternimmt Spaziergänge, die Sonne scheint, niemand trägt einen Mundschutz, was Luise auch als respektlos empfinden würde. Die Stimmung ist großartig.
Aber das größte Glück ist für Luise, dass sie eine 21einhalb Jahre jüngere Halbschwester hat, die sich viel um sie kümmert, auch um Praktisches wie die Auflösung des Hausstands etc. Diese kluge und aufmerksame Halbschwester hat anstelle von Luise eine Unterschrift abgegeben: Ein JA zur Corona-Impfung am morgigen Samstag. Sie hat mich vorhin am Telefon davon überzeugt, dass es richtig ist, dass Luise morgen, wenn das mobile Impfteam ins Altenheim St. Hedwig kommt, gegen Corona geimpft wird. Abgesehen davon, dass es einen gewissen Gruppenzwang gibt, wäre Luise vermutlich auch aus eigener Überzeugung für die Impfung. Sie hat sich seit zwanzig Jahren regelmäßig gegen Grippe und einmal auch gegen die Pneumokokken impfen lassen. Das, so erklärte mir meine “Halbtante”, hat ihr ein Gefühl der Sicherheit gegeben. Nennenswerte Nebenwirkungen hatte Luise nie.
Für Luise ist es wahrscheinlich wirklich gut, aber ich persönlich finde es seltsam, wenn 100jährige geimpft werden, nur weil sie zur Corona-“Risikogruppe” gehören. Auch ich gehöre mit 62 allmählich zu immer mehr “Risikogruppen”, was das “Einfangen” schwerer Krankheiten (und das Sterben) angeht.
Ich muss mir sagen, dass es nicht so schlimm ist, wenn die Impfung Luises Erbgut beeinträchtigt, und ich muss mir sagen, dass sie wohl kaum in Gefahr ist, in fünf oder zehn Jahren an Krebs zu erkranken. Luise ist als Impfling in guter Gesellschaft mit der Queen, mit Didi Hallervorden, mit Papst Benedikt, Netanjahu und Carl Gustav. Sie gehört zu einer Gruppe, deren Mitglieder mit neuem Wir-Gefühl sagen: Schaut her, wir sind geimpft. Aber Luise, die nicht eitel ist, kennt dieses Schaut her nicht. Sie hat auch keinerlei Ehrgeiz, sich vorbildlich zu verhalten. Und da sie zwar 100 Jahre alt, aber nicht die Queen ist, erwartet es auch keiner von ihr.
Seit vorgestern, als ich meine “Halbtante” schon einmal anrief, weiß ich noch etwas: Auch alte Menschen erkranken, wenn die (Pflege) -Bedingungen gut sind (und das gilt für St. Hedwig in Bottrop) in den meisten Fällen nur leicht an Corona. Oft haben auch sehr alte Menschen keine Symptome. Sie leiden auch nicht unbedingt unter Atemproblemen, was ich erstaunlich finde, wo sich doch alte Menschen schnell eine Lungenentzündung “holen”. Der erste Corona-“Ausbruch” in St. Hedwig im November 2020 war schnell unter Kontrolle. https://www.caritas-bottrop.de/aktuelles/presseberichte/presse/corona-infektionen-in-st.-hedwig-8295831a-b360-4f0b-b1ea-efca073c1122 Vermutlich ist St. Hedwig -auch wenn es in den Medien anders dargestellt wird- nicht die Ausnahme.
Vielleicht trotzen die Bewohnerinnen (die meisten sind Frauen) von St. Hedwig auch deshalb Corona, weil sich die Bottroper Luft deutlich verbessert hat. (Vgl. hierzu meinen Blog-Beitrag vom 2.September 2016: https://stellwerk60.com/2016/09/02/das-land-wo-sich-kohlentrassen-in-radwege-verwandeln-offene-mail-an-die-waz-oberhausen/ ) Noch in meiner Kindheit in den 1960er Jahren war der Schnee -vor allem in Zechennähe- nach kurzer Zeit schwarz. Heutzutage bleibt der Schnee weiß, nur bleibt leider der Schnee aus. Auch am 15. Januar, wo es ihn zur Freude meiner Tante Luise auch im Ruhrgebiet eigentlich immer gab.
Mit Stolz und Freude gebe ich an dieser Stelle den 100. Geburtstag meiner Tante Luise bekannt.
Herzliche Glückwünsche zum Geburtstag. Verlier den Hunger nicht, liebe Luise. Glückauf!

Mein Vater im Alter von 16 Jahren. Optisch könnte er ein Zwillingsbruder meiner Zwillingsschwester (mit 16) sein, die mir wiederum überhaupt nicht ähnlich sieht. Mein Vater war ein kluger, sanftmütiger Mann. Er sollte Karriere machen, aber kein Karrierist sein. Heutzutage kann man keine politische Karriere mehr machen, ohne Karrierist/in zu sein. In den Machtpositionen fehlt es an starken, sanftmütigen Männern. Und es fehlt uns an Politikerinnen und Politikern, die statt der Ellbogen den Verstand gebrauchen.
Meine Tante Luise hat 25 Jahre bei Karstadt in Bottrop als Kassiererin gearbeitet. Vermutlich hat die Kasse immer gestimmt. Anders als ihr Bruder Ernst hatte Luise keine kaufmännische Ausbildung. Das Foto zeigt ihren Bruder/meinen Vater als Bottroper Handelsschüler. Er ist Messdiener und Mitglied einer katholischen Messdiener-Gruppe. Dass er handwerklich unbegabt ist, schützt ihn davor, Bergmann zu werden. Wir schreiben das Jahr 1938. Die Essener Friedrich Krupp AG schaut sich in den Handelsschulen der Nachbarstädte nach begabten Nachwuchskräften um. Mein Vater, gerade 16 Jahre alt und seit dem 13. Dezember 1933 Halbwaise, bekommt das verführerische Angebot, bei Krupp eine Ausbildung zum Industriekaufmann zu machen.
Mein Großvater Karl Wilczok ist alarmiert. Dass der Rüstungskonzern ein neues Verwaltungsgebäude baut und auch den kaufmännischen Bereich aufrüstet, lässt ihn aufhorchen. Es dürfte ihm auch nicht entgangen sein, dass Adolf Hitler und Benito Mussolini im Vorjahr in der Nachbarstadt Essen waren, um der “Waffenschmiede des Deutschen Reiches” einen Besuch abzustatten. Am 27. September 1937 haben Hitler und Mussolini gemeinsam das Werksgelände besichtigt und sich von Juniorchef Alfried Krupp von Bohlen und Halbach unter anderem die Panzerwerkstätten zeigen lassen.
Mein Großvater tut das Beste, was ein Vater für seinen Sohn tun kann. Er bewahrt ihn vor einer beruflichen Entscheidung, die mein Vater später bitter bereut hätte. Stellvertretend für seinen gerade einmal 16jährigen Sohn sagt mein Großvater Karl, Bergmann, Katholik und entschiedener Nazi-Gegner, klar und deutlich NEIN.
Ich wollte ´liken´, ging aber auf der Seite hier direkt irgendwie nicht.
Tolle Geschichte.Danke! 🙂
Wie gehts der Tante? Und was hat der Vater stattdessen gelernt?
Ich habe mir den Kohlenpott immer grau und trist vorgestellt und war in den 90ern überrascht, wie grün und schön es da ist.