Im Sommer 2016 hatte der Kölner Erzbischof Kardinal Rainer Maria Woelki einen bemerkenswerten Auftritt. Nachdem immer mehr Details über Gewalt in den (überwiegend) katholischen Kinderheimen der Nachkriegsjahrzehnte publik geworden waren und der öffentliche Druck immer größer wurde, hatte die Katholische Kirche keine andere Wahl, als öffentlich um Verzeihung zu bitten. Bei der “Tagung für ehemalige Heimkinder der Behindertenhilfe und Psychiatrie und die interessierte Fachöffentlichkeit” sagte Woelki am 23.6.2016 in Berlin: „Als Vorsitzender der Caritaskommission der Deutschen Bischofskonferenz sage ich ausdrücklich, dass ich die damals in den katholischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie ausgeübte physische, psychische und sexuelle Gewalt zutiefst bedauere und die Betroffenen dafür um Entschuldigung bitte. Kirchliche Organisationen und Verantwortliche haben in diesen Fällen dem christlichen Auftrag, Menschen mit Behinderung und psychiatrisch Erkrankte in ihrer Entwicklung zu fördern und ihre Würde zu schützen, nicht entsprochen.” https://www.erzbistum-koeln.de/news/Gewaltx_Missbrauch_und_Leid_an_Behinderten_zwischen_1949_und_1975/
Mit seinem Vortrag nahm Woelki Bezug auf eine Studie, die die Katholische Kirche bzw. der Deutsche Caritasverband mit seinem Fachverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) in Auftrag gegeben hatte: „Heimkinderzeit”. In der Studie kommen überlebende Betroffene zu Wort- und erzählen unabhängig voneinander Entsetzliches. Die Studie bringt ans Licht, dass Kinder und Jugendliche (nicht nur) mit Behinderung in der Zeit zwischen 1945 -1975 in den überwiegend katholischen westdeutschen Heimen massiven Gewalterfahrungen ausgesetzt waren und Missbrauch sowie psychisches und physisches Leid erleben mussten. Für Projektleiterin Prof. Dr. Annerose Siebert war der Alltag der Heimkinder “durchzogen von Unterordnung, Isolation und Gewalt” (zitiert nach spiegel.de). Brutalität war nicht die Ausnahme, sondern die Regel, wenn es in den Einrichtungen auch immer wieder einzelne Erwachsene gab, die die Kinder in Schutz genommen und ihnen geholfen haben.
Nach dem Schuldeingeständnis von Seiten der Katholischen Kirche musste gehandelt werden. Die überlebenden Betroffenen wurden als Gewaltopfer anerkannt und konnten ihre Ansprüche auf eine (beschämend geringe) finanzielle Entschädigung von 9.000€ geltend machen, die von der Stiftung “Anerkennung und Hilfe” (Bund, Länder, Katholische und Evangelische Kirche) getragen wurde. “Heimkinderzeit” war nicht nur eine zentrale und bedeutende Aufklärungsleistung, sondern gab den Anstoß für weitere Studien und Forschungsarbeiten. Und doch erzählt “Heimkinderzeit” nicht die ganze Wahrheit.
Denn an anderer Stelle war längst weiter geforscht worden. Dem Mut, der Klugheit und Beharrlichkeit der Pharmazeutin Sylvia Wagner haben wir es zu verdanken, dass noch eine weitere entsetzliche Variante der Gewalt ans Licht kam: Der körperliche und seelische Missbrauch von Schutzbefohlenen mit den Mitteln der Medizin. Im Rahmen ihrer Dissertation im Jahr 2016 entdeckte Sylvia Wagner zahlreiche Hinweise auf medizinisch-pharmazeutische Experimente an Heimkindern, die unter dem Vorwand, psychisch krank zu sein und behandelt werden zu müssen, in die Psychiatrie kamen. Noch vor Fertigstellung ihrer Doktorarbeit gab Sylvia Wagner Ergebnisse an die Öffentlichkeit weiter, so dass kritische Medien berichten konnten.
Bereits am 2.2.2016, also einige Monate vor der Veranstaltung, auf der Woelki seinen großen Auftritt hatte, veröffentlichte spiegel online einen Artikel, der im besten Sinne aufklärt und sich auf die Forschungsergebnisse von Sylvia Wagner beruft. Den eindeutigen Hinweisen auf den schweren Missbrauch mit den Mitteln der Medizin hätten die entsprechenden kirchlichen und staatlichen Aufklärungs-Gremien im Vorfeld der “Tagung für ehemalige Heimkinder der Behindertenhilfe und Psychiatrie und die interessierte Fachöffentlichkeit” unbedingt und unverzüglich nachgehen müssen, was offenbar nicht geschehen ist.
Daniela Schmidt-Langels, Autorin des Spiegel-Artikels, beschreibt, wie eng und unselig Anstalten und schwer belastete Ärzte mit den Pharmaunternehmen kooperierten: “Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf war bis Anfang der Sechzigerjahre Hans Heinze, ein skrupelloser Arzt mit Nazivergangenheit. Während der NS-Zeit war er Gutachter des Euthanasie-Mordprogramms T4, bezeichnete unzählige Kinder als “lebensunwert” und schickte sie in den Tod. Nach 1945 konnte er seine Karriere in Wunstorf fortsetzen. Unter seiner Leitung mussten Anfang der Sechzigerjahre Heimkinder über längere Zeit die Arznei Encephabol mit dem Wirkstoff Pyritinol schlucken. Der Versuch fand in Kooperation mit der herstellenden Pharmafirma Merck statt. Der Darmstädter Konzern brachte das Medikament 1963 auf den deutschen Markt, es wird heute als Antidemenzmittel verkauft. Die Ergebnisse der Studie veröffentlichte Heinze in einer medizinischen Fachzeitschrift – einer der wenigen bisher bekannten Belege für Medikamententests mit Heimkindern.” https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/medikamententests-in-deutschland-das-lange-leiden-nach-dem-kinderheim-a-1075196.html
Einen Einblick in die Abgründe gibt ein Interview mit Sylvia Wagner (Interviewerin: Valerie Höhne), das neun Monate später, -am 2.11.2016- auf taz.de erschien. https://taz.de/Pharmazeutin-ueber-Arzneitests-im-Heim/!5350110/ Da Valerie Höhne kluge und genaue Fragen stellt, die von Sylvia Wagner entsprechend präzise und offen beantwortet werden, habe ich mir erlaubt, zentrale Passagen vom Bildschirm abzufotografieren:

Daniela Schmidt-Langels ist übrigens auch Autorin eines Films, der vier Jahre nach Erscheinen des Spiegel-Artikels am 3.2.2020 in der ARD erstausgestrahlt wurde: “Versuchskanichen Heimkind”. In diesem Film kommen Betroffene zu Wort, die durch die medizinisch-pharmazeutischen Versuche so tief verletzt wurden, dass ihr weiteres Leben schwer beeinträchtigt bzw. zerstört wurde. https://www.fernsehserien.de/filme/versuchskaninchen-heimkind
Mit düsteren Bildern, untermalt mit unheilvoller Musik, lässt uns der Film die leidvollen Erfahrungen der Kinder nachempfinden. Das erste Bild ist eine Luftaufnahme des alten Backstein-Gebäudes der Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf. Von oben nähert sich die Kamera dem Gebäude und bewegt sich auf das alte Portal zu. Während wir dem Eingang näher kommen, wird der rote Backstein grau, verliert der Film die Farbe, wird schwarzweiß. Die Kamera nimmt uns mit in den Innenraum. Alles ist in ein kaltes Blau-Grau getaucht. Wir sehen einen Jungen, der Pillen schluckt. Die Räume sind abgedunkelt, die Flure kalt. Später sehen wir ein Mädchen, das auf einem Tisch sitzt, sie trägt einen weißen Umhang und beugt sich nach vorne, ihr Rücken ist für die Punktion freigemacht, wir sehen einen Mann im weißen Kittel, medizinisches Instrumentarium.
Für Manfred Kappeler, emeritierter Professor für Sozialpädagogik, kommen die neuen Ergebnisse nicht überraschend. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Situation der Heimkinder: “Die Kinder und Jugendlichen in den Heimen, um die sich keiner kümmerte, die waren eine ideale Population, um an ihnen Medikamente ausprobieren zu können. Sie konnten sich nicht wehren, sie waren vollständig ausgeliefert… Und wenn es in einem Heim zu einer Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie kam, dann gab es niemanden, der das von außen hätte kontrollieren können. Also, man war davon überzeugt, an diesen Kindern und Jugendlichen, wie vorher an den KZ-Häftlingen, kann man ausprobieren, was für den medizinischen Fortschritt gut ist.” (Versuchskaninchen Heimkind, min.11.15 bis 11.57)
Der Film porträtiert drei Menschen, die als Kinder bzw. Jugendliche Opfer des medizinischen Missbrauchs wurden. Wolfgang Wagner, geboren 1959, wird als uneheliches Kind seiner Mutter weggenommen und ins Säuglingsheim gesteckt. Als Achtjähriger erhält er die Diagnose “schwachsinnig”. Er wird in die Essener katholische Behinderteneinrichtung Franz-Sales-Haus abgeschoben und mit Neuroleptika ruhig gestellt. Hier erlebt er die brutalen Erziehungsmethoden des ehemaligen Wehrmachts-Arztes Waldemar Strehl (“Kotzspritze”), der noch bis 1969 als leitender Arzt in der Einrichtung tätig war. Strehl war ein Sadist, der die Injektionsspritze anstelle von Rohrstock und Peitsche. gezielt einsetzte. Zur Zweckentfremdung medizinischer Instrumente als Hilfsmittel brutal-autoritärer Erziehung vgl.: https://stellwerk60.com/2021/09/17/groko-stoppen-teil-2-der-titel-schuetzt-vor-torheit-nicht-impfarzt-prof-auflauerbach/ Wolfgang Wagner, der nie “schwachsinnig” war, wird insgesamt zwölf Jahre im Franz-Sales-Haus festgehalten, wo man über all die Jahre verschiedene Medikamente in unterschiedlichen Dosierungen an ihm ausprobiert.
Marita Kirchhof, geboren 1953 als uneheliches Kind, wird von ihrer Mutter ins Säuglingsheim abgegeben und wächst im städtischen Kinderheim Hildesheim auf. Hier gilt sie irgendwann als “renitent und abnorm”. Daher bringt man sie zur Begutachtung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie Wunstorf. Hier muss sich die achtjährige Marita einer Rückenmarks-Punktion unterziehen. Dabei wird mit einer Spritze Gehirnflüssigkeit aus dem Wirbelkanal abgesaugt. Eine schmerzhafte und gefährliche Prozedur, nach der Marita tagelang im Bett liegt. Marita sträubt sich gegen den Eingriff, aber die Einwilligung in die Prozedur -so wird ihr erzählt- ist die einzige Chance, nach einem halben Jahr wieder ins Kinderheim zurück zu können.
Doch nicht nur Heimkinder wurden als “psychisch krank” stigmatisiert und in den psychiatrischen Einrichtungen Opfer medizinisch-pharmazeutischer Tests sowie sadistischer Übergriffe. So beschäftigt sich der Film mit dem Fall des heutzutage schwerkranken Jörg Weidauer, der sich als hochintelligentes Kind in der Schule langweilt und “verhaltensauffällig” wird. Der Schulleiter, der den unbequemen Schüler loswerden will, stellt die Mutter vor die Alternative: Förderschule oder Max-Planck-Institut. So kommt Jörg Weidauer im Jahr 1977 als achtjähriger Grundschüler in die damalige Kinder- und Jugendpsychiatrie des Münchner Max-Planck-Instituts für Psychiatrie, wo man ihn ein halbes Jahr lang stationär behandelt und zweieinhalb Jahre ambulant.
An Jörg werden verschiedene Neuroleptika getestet. Doch nicht nur das. “Eines Tages wurden wir durch diesen langen Gang geführt. Auf der rechten Seite war eine große Tür, durch die wir gingen, und wir mussten uns dann nacheinander ausziehen und wurden fotografiert… Woran ich mich noch sehr deutlich erinnere: Ich bekam so eine Art EEG-Kappe aufgesetzt. Da wurden auch irgendwelche Spritzen in die Kopfhaut gemacht. Und da bin ich also teilweise nachts geweckt worden. Und dann saß ich vor einem Computer und habe da Reaktionsspiele machen müssen. Das ging dann also wirklich stundenlang, bis ich also wirklich unter Schlafentzug litt. Und unter diesen Symptomen und der Erschöpfung wurden dann diese Tests weitergemacht. Welchen Sinn das gehabt hat – Keine Ahnung.”
Jörg Weidauer hat keinen Anspruch auf ein noch so geringes “Schmerzensgeld”. Von der “Stiftung Anerkennung und Hilfe” werden nur diejenigen “entschädigt”, die bis Ende 1975 Opfer von Gewalt wurden. Dabei belegt seine Geschichte, dass es auch über das Jahr 1975 hinaus Missbrauch von Kindern und Jugendlichen mit den Mitteln der Medizin gegeben hat, und das unter dem Deckmantel der Fürsorge und Hilfeleistung. Was Jörgs Fall zusätzlich bitter macht, ist die Tatsache, dass ausgerechnet seine Mutter (wenn auch wider besseres Wissen) der Einweisung in die Psychiatrie zugestimmt hat. Was sich Jörg Weidauer dennoch erhofft, ist eine Aufklärung über das, was passiert ist, und eine Entschuldigung derjenigen, die ihn physisch und psychisch so schwer verletzt haben.
Anders als Jörg Weidauer konnten diejenigen, die als Opfer anerkannt wurden, immerhin eine Entschuldigung erwarten. “Konnten” schreibe ich deshalb, weil die Frist für den Antrag zum 30.6.2021 abgelaufen ist. Menschen, die sich später gemeldet haben oder jetzt erst melden, haben nicht einmal den Anspruch auf eine Entschuldigung. So werden viele Opfer des medizinisch-pharmazeutischen Missbrauchs darüber hinaus Opfer einer kalt und hyperkorrekt agierenden Bürokratie. Ein Skandal, wie ich finde, auch in Anbetracht des riesigen Geld- und Grundbesitzvermögens der Kirchen.
Doch gab es Entschuldigungen von Seiten des Staates und der Kirche. Es ist großartig, dass Daniela Schmidt-Langels in ihrem Film den bewegenden Moment einer solchen Entschuldigung festgehalten hat. Wir Zuschauerinnen und Zuschauer werden Augenzeugen: Eine Vertreterin der Stiftung “Anerkennung und Hilfe” (links im Bild) entschuldigt sich bei Marita Kirchhof.







(Versuchskaninchen Heimkind, min. 39.40 bis 40.40)
De Film wurde am 3.2.2020 zu einer denkbar ungünstigen Sendezeit erstausgestrahlt, an einem Montag im Nachtprogramm um 23.30 Uhr. Die meisten Menschen dürften zu dieser Zeit schon geschlafen und den Film verpasst haben. Glücklicherweise ist er in der ARD-Mediathek bis Ende 2025 abrufbar und auch auf Youtube verfügbar.
Versuchskaninchen Heimkind ist schockierend gut gelungen, weil er uns nachempfinden lässt, was passiert ist – Und weil seine Bilder uns nicht mehr loslassen. Meiner Meinung nach müsste dieser Film fester Bestandteil des Geschichtsunterrichts an unseren Schulen sein.
Es ist richtig, dass Schülerinnen und Schüler nach Auschwitz fahren und die KZ-Gedenkstätte besuchen. Das Problem ist nur, dass die Exkursion zu einer Pflichtübung wird, die man abhakt. Die Jugendlichen sind zwar für den Moment betroffen, aber sie stellen keinen Bezug zur Nachkriegszeit bzw. ihrer Gegenwart her.
Der Schulunterricht gibt -gerade was die Aktualität des Nationalsozialismus betrifft- viel zu einfache Antworten. Es ist wichtig, dass die Schüler für rechtsradikale Parteien sensibilisiert werden. Doch reicht es nicht, die Jugendlichen gegen die AFD zu “immunisieren”, was ja in aller Regel gelingt. Zwar ist das Gedankengut der Nationalsozialisten in den rechtspopulistischen Parteien lebendig, aber als “Gedankengut” ist es nur die Spitze des Eisbergs, denn Brutalität, Menschenverachtung und Gleichgültigkeit wirken an anderer Stelle fort. Die von der Euthanasie faszinierten Nazi-Ärzte der Nachkriegszeit waren bestens getarnt, kaum jemand war so dumm, in die NPD einzutreten.
Zurück zu Kardinal Woelki. In seinem Vortrag sind die medizinisch-pharmazeutischen Experimente kein Thema. Auf dieses Weise verharmlost Woelki das tatsächliche Grauen. Die Deutsche Bischofskonferenz hat im Rahmen einer Pressemitteilung Kardinal Woelkis Rede vom 23.6.2016 als pdf ins Internet gestellt, so dass man sie genau studieren kann. Dieser Vortrag dient leider der Selbstreinwaschung. kann. https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2016/2016-113a-Vortrag-Kard.Woelki.pdf
In der Anrede erfahren wir, wer bei dem Vortrag zugegen war. Es waren nicht nur Projektleiterin, Kirchenvertreter und Betroffene, sondern auch hochrangige Politikerinnen und Politiker: “Meine sehr verehrten Damen und Herren aus allen Ebenen des Deutschen Caritasverbandes, sehr geehrte Frau Prof. Siebert, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung, der Ministerien und dem Parlament, sehr verehrte, liebe Damen und Herren, um die es heute geht…” (s.o.)
Vertreter der Pharmaindustrie waren offenbar nicht zugegen. Vermutlich waren sie nicht eingeladen worden. Ihr Schuldeingeständnis von Vertretern der Pharmaunternehmen hätte den feierlichen Rahmen gesprengt und die tatsächlichen Dimensionen der gegenseitigen Verstrickungen offengelegt. Auf Anfragen reagierten die Pharma-Unternehmen mit selbstgerechter, gewissenloser Gleichgültigkeit.
“Die involvierten Konzerne lehnen auf Anfrage jedoch jede Verantwortung für die damaligen Studien ab. Merck etwa verweist auf die damals andere Gesetzeslage zur Dokumentation von Medikamententests: ‘Wir können uns nicht für etwas entschuldigen, was nicht in unserer Verantwortung lag. Sollten sich Dritte nicht entsprechend Gesetzeslage verhalten haben, bedauern wir das selbstverständlich.'” s.o.: https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/medikamententests-in-deutschland-das-lange-leiden-nach-dem-kinderheim-a-1075196.html
Zwar war es bis in die 1970er Jahre rechtens, dass man an Kindern ohne deren Einwilligung bzw. die Einwilligung der gesetzlichen Vertreter medizinische Tests durchführen konnte, doch diese Untersuchungen waren ein mehrfacher Verstoß gegen das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, insbesondere gegen Paragraf 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. aber auch gegen Paragraf 2: Niemand darf einen anderen töten oder verletzen.
Und wie ist es um die Gesetzgebung bestellt, wenn sie die schutzbedürftigen Kinder nicht schützt, sondern den medizinischen Übergriffen ausliefert? Spätestens als Contergan 1962 vom Markt genommen wurde, hätte die Politik aufhorchen und das Arzneimittelgesetz ändern müssen.
An einer Aufklärung im Sinne einer umfassenden, schonungslosen Wahrheitsfindung kann die Katholische Kirche nicht interessiert sein, denn die Aufdeckungen rütteln am Firmament der großen Kirchen, die trotz alledem immer noch als moralische Instanz gelten. Einen Bezug zur Gegenwart stellt Woelki ebenfalls nicht her, auch nicht den naheliegenden zum sexuellen Missbrauch (insbesondere) in der Katholischen Kirche.
Vor diesem Hintergrund empfinde ich Woelkis vermeintlich anteilnehmenden Sätze vom 23.6.2016 als heuchlerisch und sentimental: “…Wir haben heute gehört, welches Leid schutzbefohlene junge Menschen in katholischen Einrichtungen (der Behindertenhilfe und Psychiatrie) erfahren haben. Als Bischof schmerzt mich jede einzelne dieser Erzählungen sehr. Und dabei ahne ich all die unerzählten Erfahrungen, um die nur Opfer und Täter wissen – gebe Gott, dass diese Erfahrungen nicht dem Vergessen preisgegeben sind...” War Woelki damals wirklich nur umwölkt von “Ahnungen”?
“Behindertenhilfe und Psychiatrie” habe ich bewusst in Klammern gesetzt, denn Misshandlungen von Schutzbefohlenen fanden und finden auch in anderen Räumen der Kirche statt. Und wenn einer mehr als nur eine Ahnung hat von den “unerzählten Erfahrungen, um die nur Opfer und Täter wissen”, dann ist es Erzbischof Kardinal Woelki.
Noch tritt Woelki nicht zurück. Derzeit befindet er sich im Sommerloch, denn hier in NRW haben die Sommerferien begonnen. Doch an der Basis, wo vielerorts gute Arbeit geleistet wird, regt sich Widerstand. Unlängst wurde Woelki, gegen den mittlerweile auch wegen Meineides ermittelt wird, daran gehindert, eine Messe zu halten. In Aachen fand im Rahmen der sogenannten Heiligtumsfahrt eine große Open-Air-Messe statt, die Woelki leiten sollte. Doch im Mädchenchor des Aachener Doms gab es heftige Diskussionen. Mehr als die Hälfte der 120 Sängerinnen weigerte sich, mit Woelki, der die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche weiterhin verschleppt, zusammen auf der Bühne zu stehen.
Liebe Lisa, ich habe den Beitrag bei mir verlinkt. Falls du das nicht möchtest, melde dich bitte bei mir!
Herzlichen Gruß
Maren
Liebe Maren, ich danke dir sehr dafür, dass du den Beitrag verlinkt hast. Nur bin ich aufgrund übler Erfahrungen extrem öffentlichkeitsscheu.
Gestern hatte ich so viele Aufrufe wie noch nie. Ich hab dann erst einmal die Flucht ergriffen und den Computer zugeklappt. Jetzt werde ich die klugen Kommentare, die ich dir verdanke, freischalten und kommentieren.
Herzliche Grüße aus Köln, Lisa
Liebe Lisa, wenn du magst, würde ich mich freuen, wenn du mir eventuell in einer Mail an mich (maren.lebensquell@gmail.com) mitteilst, ob es dir lieber wäre, wenn ich so eine Verlinkung unterlasse (bzw. den Beitrag bei mir wieder lösche). Ich wusste das nicht, dass es für dich schwierig sein könnte!
Du scheibst so gute und stets so gut recherchierte und aus meiner Sicht wichtige Beiträge, dass es mir schön erschien, wenn mehr Menschen diese lesen. Aber ich wollte dich natürlich nicht erschrecken!
Herzliche Grüße
Maren
Ein wichtiger Beitrag, dank Maren habe ich ihn hier gefunden. In meiner Jugend (50er Jahre) habe ich mich mit den medizinischen Experimenten der Nazi-Zeit befasst und auch auf personelle Kontinuitäten aufmerksam gemacht. Die Vorstellung von einem Menschen, der den Experimenten der “Mediziner” hilflos ausgeliefert ist, hat immer auf meiner Seele gelegen und große Angst ausgelöst. Es ist die größte Angst, die es überhaupt geben kann. Darum habe ich mich dann nicht mehr weiter damit befasst: ich konnte es nicht aushalten. Wenn ich jetzt hier klipp und klar lese, wie an den Heimkindern gehandelt wurde, schaudert es mich und mir wird schlecht, weil ich nichts getan habe, um mich einzumischen.
Möge dein Artikel viele erreichen und abwenden, was noch abgewendet werden kann.
Mit besten Grüßen aus Griechenland, wo ich seit 40 Jahren lebe.
Liebe Gerda,
ich kenne die Angst, “den Experimenten der Mediziner hilflos ausgeliefert” zu sein, sehr gut. Es sind ja auch die alltäglichen ärztlichen Untersuchungsmethoden, die uns Angst machen können. Nun haben erwachsene Menschen oft noch die Möglichkeit, NEIN zu sagen.
Einmischen kann man sich manchmal im konkreten Fall. Ich habe vor zwei Jahren erlebt, wie ein mir naher Mensch (eine Frau) während eines psychotischen Schubs in die Psychiatrie Köln-Merheim kam. Nach wenigen Tagen schaffte sie es, auf die offene Abteilung verlegt zu werden. Nur wollte man sie, als es ihr nach zwei Wochen viel besser ging, nicht aus dem Krankenhaus entlassen. Erst müsse man, um einen Hirntumor auszuschließen, ein MRT durchführen. Das war medizinisch unsinnig und reine Panikmache. Wie kann man psychisch kranke Menschen, die eh schon große Angst haben, guten Gewissens ohne Grund in die Röhre schieben? Ich habe sie in ihrem NEIN unterstützt, was zum Glück mit Murren, aber dennoch schnell akzeptiert wurde.
Ärzte unterschätzen, welche Panik die Apparate-Medizin uns macht. Die “Radiologie Nuklearmedizin Mannheim” wirbt für die Röhre mit einem schaurig lässigen Spruch: “MACHEN SIE ES SICH GEMÜTLICH!”
Herzliche Grüße, Lisa
Toller Beitrag. Kinderdörfer hängen da auch mit drin wurde mir einmal mitgeteilt. Da darf weiter recherchiert werden. Es geht viel viel tiefer und der Missbrauch von Kindern geht weiter als wir uns vorzustellen wagen. Wir müssen da die Auge offenhalten.
Liebe Ulrike,
vielen Dank für den Kommentar und den Hinweis auf den Missbrauch in Kinderdörfern. Ich hab mich vorhin ein bisschen im Internet kundig gemacht.
In den Kinderdörfern gibt es demnach nicht nur sexuellen Missbrauch, sondern auch Gewalt der Kinder und Jugendlichen untereinander, was nicht überrascht, denn die Kinder haben in der Regel schreckliche Erfahrungen gemacht.
Bis vorhin hatte ich eine viel zu romantische Vorstellung von einem Kinderdorf. Aber ein Haus im Kinderdorf ersetzt kein Elternhaus (bzw. die Elternwohnung). Die Elternwohnung ist ein elementarer Schutzraum jenseits der Öffentlichkeit. Das Haus im Kinderdorf hingegen ist kein wirklich intimer, sondern ein öffentlicher Ort. “Kinderdorfmutter” ist ein Ausbildungsberuf und die Kinderdorfmutter/der Kinderdorfvater selber eine pädagogische Fachkraft mit Anspruch auf Jahresurlaub. Sie/er führt täglich Buch und steht in ständigem Kontakt mit dem Jugendamt und/oder den leiblichen Eltern. Ich kann mir vorstellen, dass insbesondere kleine Kinder total überfordert sind, wenn die Mama mal wieder “frei” hat, in ihre Zweitwohnung umzieht und nicht gestört werden will.
Einen guten Abend noch…
Danke für diesen Beitrag, der sich – so meine Einschätzung – nicht nur mit einem weiteren Aspekt aus den dunklen Kapitel der BRD / DDR – Vergangenheit befasst. Das perfide Zusammenspiel zwischen Kirche(n), verantwortlicher Politik und Profit orientierter Industrie ( ” Pharma – Mafia ” ) oder der in der DDR diktatorisch agierenden Partei – Eliten unter dem Deckmantel des ” Sozialismus ” zum Zwecke der Unterjochung von Minderheit / Abweichlern ist zwar bekannt, dass es dabei auch – nahezu schutzlose – Kinder betraf, wurde indes bislang bei der Aufarbeitung jener Zeit eher vernächlässigt. Ich befasse mich ( auch als Betroffener ) seit einigen Jahren mit dem Thema ” Verschickungskinder “. Ein weiterer schwarz / brauner Fleck in der deutschen Historie.
Schöne Grüße aus Eching b. München
Lieber Herr Wieloch,
vielen Dank für Ihren Kommentar und den Hinweis auf die “Verschickungskinder.” Ich muss gestehen, dass ich zwar vor einiger Zeit die Petition von Anja Röhl unterschrieben habe, aber eine gewisse Scheu hatte, mich mit der Geschichte der “Verschickungskinder” zu beschäftigen. Daher habe ich in den letzten Tagen einiges nachgeholt, viel gelesen und mir mehrmals den wichtigen und berührenden Film von Lena Gilhaus angeguckt.Lena Gilhaus hat sich gemeinsam mit Vater und Tante, die in den späten 60er Jahren als Geschwisterpaar in ein Kurheim auf Sylt verschickt wurden, auf die Spurensuche gemacht. https://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/geschichte-im-ersten/videos/verschickungskinder-video-102.html
Für mich ist es kaum erträglich zu realisieren, dass die Kinder oft von Frauen misshandelt wurden, was natürlich auch daran liegt, dass die öffentliche Kinderbetreuung eine Aufgabe der Frauen war. In den kirchlichen Einrichtungen arbeiteten Nonnen, die dort vollkommen überfordert waren. Eigentlich, so glaube ich, sind Frauen besonders liebesfähig. Die Mutterliebe, die schon kleine Mädchen “lernen” und erfahren, wenn sie mit ihren Puppen oder Kuscheltieren spielen, ist der Ursprung aller Liebe.
Die Entscheidung, ob sie ein Kind zur Welt bringen will oder nicht, muss jede Frau später selber treffen. Die Nonnen dürfen nicht frei entscheiden, sondern müssen gehorchen. Sie dürfen nicht heiraten und auch keine Kinder zur Welt bringen. Auf diese Weise wurden (und werden) die Nonnen um jegliche Selbstbestimmung über ihren Leib und ihr Leben betrogen. Sie müssen sich aufopfern und “Gott” dienen. Gleichzeitig zwingt die Kirche die Nonnen zur christlichen Nächstenliebe. Im Falle der Betreuung von Kindern bedeutet das: Mutter-Liebe auf Befehl.
Viele Nonnen, die “Verschickungskinder” betreut haben, waren nach dem Weltkrieg schwer traumatisiert. Wie hatte Gott es zulassen können, dass so viele Menschen ums Leben gekommen waren? Das Gefühl, von Gott im Stich gelassen worden zu sein, vermischte sich bei den Frauen mit der tiefen Trauer darüber, keine eigenen Kinder haben zu dürfen. Vermutlich konnten es viele Nonnen nicht ertragen, glückliche Kinder zu sehen.
Auch dürften die Nonnen die Kinder um ihre Familien beneidet haben, denn die “Verschickungskinder” waren ja – anders als oft behauptet- in aller Regel Kinder, denen es zu Hause gut ging, die geliebt wurden. Wenn irgendwer ein Gespür dafür hatte, dann waren es die Nonnen. Neid und Eifersucht sind gute Wärme-Sensoren.
Wenn die Kinder in den Heimen ankamen, waren sie meistens noch voller Neugier und Vorfreude. Wenn der Rahmen stimmt, brauchen Kinder, denen es gut geht, nicht viel, um glücklich zu sein. Sand und Meer. Aber gerade das kindliche Vermögen, unbändige Freude zu empfinden und den Augenblick auszukosten, ist autoritären Charakteren ein Dorn im Auge.
Ein Moment des Films hat mich besonders beeindruckt. In Minute 13.11 wird ein Schwarz-Weiß-Foto eingeblendet. Wir sehen kleine Kinder, die auf großen Liegestühlen liegen. Auf den ersten Blick wirkt alles heiter und harmonisch. Das Wetter ist schön, die Liegestühle sind mit gestreiftem Stoff bespannt. Wäre das Bild bunt, könnte es ein lustiges Werbefoto sein für ein Wellness-Hotel, das auch Kinder willkommen heißt.
Doch Karl-Heinz Strötzel, ein Betroffener, der mehrmals verschickt wurde und im Film zu Wort kommt, klärt uns auf. Er erzählt, dass er mittags drei Stunden regungslos im Schlafsaal in einem Bett liegen musste und nicht einmal die Augen aufmachen durfte.
An manchen Tagen verlegt man die Liegekur nach draußen, “damit die Kinder ihr Stranderlebnis” haben. Doch der Begriff “Stranderlebnis” ist zynisch, denn die Liegestühle sind zum Haus gerichtet, damit man die Kinder unter Kontrolle hat, aber auch, um sie psychisch zu quälen.
Das Kinderheim hat einen direkten, eigenen Zugang zum Strand, aber das kleine Tor, das den Weg freimachen könnte, ist verschlossen. Die Kinder können das Meer nicht sehen, aber sie riechen es, sie hören die Wellen, die Möwen kreischen, sie hören fröhliches Kindergeschrei…