Als im Dezember 1967 in Kapstadt zum ersten Mal ein Menschen-Herz erfolgreich transplantiert wurde, war ich neun Jahre alt und beeindruckt – wie wir alle. Die Herztransplantation war eine medizinische Sensation – und wurde zum großen Medienthema. Christiaan Barnard, der ausführende Chirurg, war gerade 45 Jahre alt, smart, attraktiv, ein Frauenschwarm. Barnard verkörperte einen neuen Ärztetyp. Er war ein Saubermann, einer, der dem schönen Anschein nach nicht nach Chloroform roch, sondern über die Kontinente hinweg das Odeur von Rasierwasser verströmte. In Westdeutschland zierte Barnard die Titelseiten der Illustrierten. Doch während Stern und Bunte ihn in legerer Freizeit-Pose an der Seite seiner damaligen Gattin zeigten, war Barnard auf der Titelseite des Spiegel solo.
Das Cover der Ausgabe vom 4. März 1968 ist zweigeteilt. Die untere Hälte zeigt einen Operationstisch, wir sehen blutigen, aufgetürmten Mull, ein Rippenspreiz-Gerät, eine Knochensäge. Es ist vollbracht: Die hauchdünn behandschuhten Hände haben die Instrumente beiseite gelegt. Die eine, eine linke Männerhand, ist leicht gewölbt und legt sich wie segnend auf den noch zu schließenden Brustkorb.
Die obere Bildhälfte nimmt Barnards Konterfei ein. Wir sehen einen attraktiven, ein Objekt in der Ferne fixierenden, hochkonzentriert einer kaum lösbaren Aufgabe sich stellenden Mann: Glatt rasiert, die Unterlippe leicht zerkaut, auffallend weiße, etwas unregelmäßige Zähne. Dieser Christiaan Barnard ist ein starker, kühner Mann, wild entschlossen dem Tod trotzend wie Robert Mitchum in Fluss ohne Wiederkehr.
… Der Grad zwischen Zähne zeigen und Zähne fletschen ist schmal… DER SPIEGEL, 4. März 1968, Beginn einer neuen SPIEGEL – Serie. DER SPIEGEL verkauft die erste “Herzverpflanzung” als rührselige Story. Der Auftakt-Artikel endet mit einem Dialog zwischen Patient Washkansky und Chirurg Barnard. Als man Washkansky zwei Tage nach der OP den Luftröhrenschlauch entfernt, spricht er seine ersten Worte. Sein Gegenüber ist nicht ein Angehöriger oder eine Angehörige, sondern Er, Barnard. Washkansky: “Es geht mir viel besser. Was war das für eine Operation? Sie hatten mir ein neues Herz versprochen.” … “Chris Barnard lächelte: Sie haben ein neues Herz.”
Organverpflanzung war schon in den Jahren vor der ersten Herztransplantation ein vieldiskutiertes Thema. In Westdeutschland war 1963 die erste Niere transplantiert worden. Die “Verpflanzung” eines Herzens jedoch war heikler als die einer Niere. Ein für hirntot erklärter Mensch kann die chirurgische Entnahme einer Niere eine zeitlang überleben, nicht aber die Entnahme des Herzens. Für einen Sterbenden (der “hirntote” Mensch ist ja eigentlich ein sterbender Mensch) bedeutet der Herz-Raub den sicheren Tod. Die amerikanischen Western, die das deutsche Fernsehen austrahlte, erzählten: Will ein Mann einen Mann erschießen, muss er auf sein Herz zielen.
Wir Kinder spielten die Herztransplantation nach. Weniger geliebte Kuscheltiere wurden operiert. Die Operation verlief einseitig. Da Kuscheltiere keine Herzen haben, konnten ihnen auch keine entnommen werden. Es gab also nur Herz-Empfänger. Die Herzen, die wir verpflanzten, waren olle Radiergummis, mit denen zu radieren es keinen Spaß mehr machte. Brauchbar für die Verpflanzung waren nur zweifarbige Radiergummis mit einer roten Bleistift- und einer blauen Tintenseite. Rot und blau waren ja auch die beiden Herzkammern, zumindest waren sie so im Biologiebuch meines älteren Bruders abgebildet. Wir waren großartige Ärzte und retteten schwerkranken Kuscheltieren das Leben. Mein Bruder spielte den ausführenden Chirurgen, wir jüngere Schwestern assistierten.
Mein Bruder hatte von einem etwas seltsamen (angeheirateten!) Onkel, der Hals-Nasen-Ohrenarzt war, einen ausrangierten Ärztekoffer geschenkt bekommen- mit originalen Instrumenten, was ich im Nachhinein fahrlässig finde. Damals fand ich es toll. Onkel Georg, Patenonkel meiner Zwillingsschwester, kam optisch auf Ferdinand Sauerbruch. Im Zweiten Weltkrieg war er Lazarettarzt gewesen. Im Wohnzimmerschrank der Familie stand hinter Glas ein Totenschädel. Dass meine liebe, lustige Tante Lore das zulassen konnte, kann ich im Nachhinein nicht begreifen.
Üblich waren Schädel in der Vitrine auch in Arzthaushalten der 1960er Jahre nicht. Mein (ebenfalls angeheirateter) Patenonkel Päule, ein freundlicher, bodenständiger Radiologe, hätte niemals einen Totenschädel im Wohnzimmer ausgestellt. Päule habe ich zu verdanken, dass meine Zähne nicht noch schlechter wurden, als sie jetzt sind. Wenn ich einen Dauerlutscher bekam, lutschte ich so langsam, dass ich stundenlang was davon hatte. Gesund für die Zähne ist das natürlich nicht. So erzählte mir Onkel Päule von medizinischen Notfällen, von schwerverletzten Kindern, die mit dem Lutscher im Mund gestolpert waren.
Schädel hinter Glas. Eine seltsame Koinzidenz: Nieselregen, ein trüber Tag Ende Januar. Kaum denke ich seit Jahren einmal wieder an den Menschenschädel in der Wohnzimmervitrine, entdecke ich hinter der Windschutzscheibe eines an der Nippeser Werkstattstraße geparkten Transporters einen Tierschädel. Auf einem Notizzettel links neben dem Schädel stehen Name und Telefon-Nummer eines Schreiners “auf Montage”, der seine Dienste anbietet. Ich stelle mir die Frage, was Holz und Knochen miteinander zu tun haben, wo doch alte Knochen an verwittertes Holz erinnern. Ich finde heraus: Viel! Knochenleim ist der klassische Leim: “Es gibt kein Möbel aus dem 19. Jahrhundert, das nicht mit diesem Leim zusammengefügt ist.” (Feine Werkzeuge.de) Und bei Wikipedia lese ich, dass im Geigenbau bis heute nahezu ausschließlich Knochenleim verwendet wird. Dass man wahrscheinlich auch aus Menschenknochen Leim herstellen könnte, ist eine entsetzliche Vorstellung.
In den 1970er Jahren bekam Anni, Patentante meiner Zwillingsschwester, eine “neue” Niere. Von den Umständen habe ich damals nicht viel mitgekriegt. Anni, die gerne redete (ich erinnere mich noch an ihre leicht rauchige Stimme), wurde manchmal ganz still. “Meine Niere wächst gerade”, deutete sie einen ziehenden Schmerz, “das Mädchen war ja auch erst acht.” Uns Geschwistern war Tante Anni unheimlich geworden. Die Vorstellung, dass sie die Niere eines toten Mädchens in sich trug, war kaum erträglich. Das Mädchen musste noch jünger gewesen sein als unsere Großkusine Susanne, die Anfang der 1960er Jahre innerhalb weniger Wochen zweijährig an einer akuten Leukämie gestorben war, einer tückischen Krankheit, die man damals noch nicht behandeln konnte. Susannes Vater, selber Arzt, sechs Tage jüngerer Lieblingsvetter meiner Mutter, hatte lebensverlängernde Maßnahmen wie die damals übliche Bluttransfusion abgelehnt, um seiner Tochter weiteres Leid zu ersparen. Während unsere Mutter viel bei der kranken Susanne war, durften wir Kinder nicht zur ihr. Wir hätten es auch nicht gewollt. Es war nur unbegreiflich und schrecklich. Wir hatten Angst, selber an Leukämie zu erkranken, kriegten aber nur unsere Kinderkrankheiten, das war alles.
Dass die akute Leukämie unter welch insbesondere für Kinder unzumutbaren Bedingungen auch immer behandelbar ist, gehört zu den großen Errungenschaften der Schulmedizin. Auch die Möglichkeit, Organe zu transplantieren, ist eine Errungenschaft. Aber die Entwicklung und Weiterentwicklung der Transplantationsmedizin geschah und geschieht nicht nur aus Menschenliebe. Antreibende Motive sind Geldgier, Prestigekämpfe, das Ausloten von Machbarkeiten und – insbesondere im Fall der Herz-Transplantation – die Kontrolle über Leben und Tod: Gott spielen. Nicht zufällig nennt DER SPIEGEL Barnhard verklärend den “Herz-Verpflanzer”. Barnard haucht dem Todgeweihten neues Leben ein. Hier wird der Arzt zum Schöpfer, zum Initiator einer zweiten, einer Art Neugeburt. Endlich gelingt dem Mann das, was er von Natur aus nicht kann: Leben geben.
Der Ausdruck “Organspende” banalisiert einen äußerst heiklen, fragwürdigen und in sich widersprüchlichen Vorgang. Ich gebe im Vorfeld die Einwilligung zur Entnahme von Organen für den Moment, wo man mich für “hirntot” erklärt, mein Organismus aber noch so lebendig sein muss, dass er die Organe am Leben erhält. Meiner Meinung nach müsste man einen neuen Begriff finden. Auch die Zahlen irritieren. “Laut DSO wurden im ersten Halbjahr 2018 insgesamt 1576 gespendete Organe verzeichnet, im Vorjahr wurden noch 1331 registriert”, lese ich im Internet. Die Zahlen sind erstaunlich klein. Wie passen sie mit einer ganz anderen Zahl zusammen, der von Millionen Deutschen, die einen Organspendeausweis haben?
Ich suche weiter und finde aktuelle Ausweis-Zahlen für den Monat Januar: “In dem Monat wurden 740.000 Ausweise bestellt, wie das Wirtschaftsmagazin «Business Insider» unter Berufung auf Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) berichtet. Zuvor gab es nach Angaben des BZgA im Schnitt rund 330.000 Bestellungen pro Monat.” Ich folgere, dass ich als Besitzerin eines ausgefüllten Organspendeausweises noch lange keine Organspenderin wäre, sondern nur eine Spendewillige. Die niedrigen Organspende-Zahlen hängen damit zusammen, dass ich offiziell erst in dem Moment Organspender/in wäre, in dem man mir meine Organe entnähme, also nach meinem “Hirntod”. Aber kann man dieses Entnommenbekommen in einem Moment, wo es keinen freien Willen mehr gibt und keine Möglichkeit, nein zu sagen, noch Spende nennen?
“Organspende” klingt wie “Blutspende”, aber es ist was ganz anderes. Wenn Menschen Blut spenden, ist das großzügig. Sie tun es (hoffentlich) freiwillig, lebendig, bei guter Gesundheit und aus Menschenliebe. Während ihr Blut anderen Menschen das Blut ersetzt, das diese verloren haben, regeneriert sich das eigene und erneuert sich. Die Natur scheint nichts gegen die Blutspende zu haben. Im Gegenteil. Passen die Blutgruppen zusammen, nimmt der Organismus das Spender-Blut an. Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe haben das gleiche Blut. Es ist erstaunlich: Eine Art Blutgruppenverwandtschaft verbindet uns Menschen über alle Grenzen hinweg miteinander.
Die Blutspende ist eine wahrhafte Spende, weil ich selber mehr als genug (in diesem Fall Blut) habe. Bei der “Organspende” ist das anders. Organe wachsen nicht nach. Und sie wachsen auch so einfach nicht an. Die Natur scheint etwas gegen die Transplantation von Organen zu haben. Der Organismus des Empfängers wehrt die Organe, die ihm eingesetzt werden, ab, er muss durch Medikamente überlistet werden.
Vielleicht, so denke ich heute, stammte Annis Niere aus der DDR. Es klingt makaber, aber es war so: Während die Menschen nicht in den Westen reisen durften, durften es ihre Organe sehr wohl. Zwischen DDR und BRD gab es tatsächlich einen regen Organhandel. Im Jahr 1975 wurde in der DDR die Widerspruchslösung eingeführt. Die Menschen mussten widersprechen, wenn sie mit der Entnahme ihrer Organe nach dem Hirntod nicht einverstanden waren. Nach Gesundheitsrecht der DDR brauchte man keine Einwilligung der Verwandten, die oft nicht einmal über die Organentnahme informiert wurden. Ein erhellender und erschreckender Beitrag: http://www.mdr.de/zeitreise/ddr/organspende-ddr-100.html
Das Gesundheitssystem der DDR sicherte zwar eine gute medizinische Grundversorgung, aber es machte -überspitzt gesagt- die Menschen zu Leibeigenen. Insbesondere in ihrem Zugriff auf Leib und Leben der Bürgerinnen und Bürger gab sich die DDR (schamlos, wie ich finde) als Diktatur zu erkennen.
Mia, der Freundin meiner Mutter, wurde erlaubt, uns besuchen zu kommen, als sie alt war und nicht mehr arbeitsfähig. Eine damals noch junge Freundin unserer DDR-Freunde “durfte” nach einer Brustkrebs-Operation in den Westen reisen, um sich ein Implantat zu beschaffen. Von einer anderen Entwürdigung habe ich nur gelesen: DDR-Häftlingen wurde ohne deren Einwilligung Blut abgenommen, das man gegen Westgeld an das Bayerische Rote Kreuz verschacherte: http://www.swr.de/report/presse/ddr-blutspenden/-/id=1197424/did=12691134/nid=1197424/wdwsee/index.html
Mitte Januar haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages eine Widerspruchslösung für “Organspenden”, wie sie Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vorgeschlagen hatte, mit deutlicher Mehrheit abgelehnt. Ich persönlich bin sehr erleichtert darüber.
Sehr geehrter Herr Gesundheitsminister Jens Spahn, eine staatlich verordnetes JA zur “Organspende” gab es in Deutschland, so gerne das verschwiegen wird, schon einmal. Befassen Sie sich bitte einmal mit der deutsch-deutschen Geschichte. In der DDR hat es nicht nur einen Impfzwang gegeben, sondern auch den Zwang, nein zu sagen, wollte man der staatlich verordneten Organentnahme widersprechen.
Das Menschenbild, das sich hinter der Widerspruchslösung verbirgt, ist nicht annehmbar. Eine Medizin, die sich in diesem Sinne verhält, klopft den Leib des verstorbenen bzw. noch sterbenden (“hirntoten”) Menschen darauf ab, was der hergeben kann. Sehr geehrter Herr Spahn, begreifen Sie bitte: Menschen sind nicht recyclebar.
13.3. Eine kleine Ergänzung: Möglicherweise haben wir die deutliche Ablehnung der Widerspruchslösung der Fraktion DIE LINKE zu verdanken. Eine klar durchdachte und überzeugend argumentierende “Kleine Anfrage” der Fraktion und der Abgeordneten Kathrin Vogler, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Heidrun Dittrich, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Harald Weinberg und Sabine Zimmermann vom 23.7.2013 stellt die Gleichstellung Tod=Hirntod in Frage und dürfte im Deutschen Bundestag Spuren hinterlassen haben.